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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roopa Farooki
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spät zur Geschichtsstunde gekommen und hat versucht, ihren roten Knutschfleck am Hals mit einem lila Fransenschal zu verdecken; bei der täglichen Schülerversammlung in der Aula hat sich an einem lichtglänzenden Seidenfaden eine Spinne heruntergelassen, und sie haben aus dem Gesangbuch eines der Lieder gesungen, die Yasmin am wenigsten leiden kann, weil es fünf Druckfehler hat, über die sie sich immer ärgert; eine der Erstklässlerinnen hat auf dem Klo geheult, und Yasmin hat zwar daran gedacht, sie zu fragen, was los ist, aber vergessen, sich die Antwort anzuhören, und ist gegangen, als es zur nächsten Stunde klingelte; mittags ist sie um den Sportplatz gelaufen, achtmal im Uhrzeigersinn und achtmal gegen den Uhrzeigersinn, und hat dann in der Cafeteria ein Brot mit geriebenem Käse gegessen und Orangensaft dazu getrunken; Mr. Hutchinson hat mit einem aufgesetzten mittelenglischen Akzent aus Chaucers Canterbury Tales vorgelesen, aber sie konnte in seiner Aussprache einunddreißig Unstimmigkeiten zählen, und als er fertig war, hing an seiner Lippe ein Spuckebläschen; in Französisch haben sie mit dem Roman L’Etranger von Camus angefangen, der mit dem Satz Aujourd’hui, maman est morte beginnt, und die ersten Kapitel sollen einen schockieren, weil die Mutter des Helden gerade gestorben ist und er eine Trauerbinde anlegt, sich aber trotzdem mit einem Mädchen trifft und einen lustigen Film mit einem berühmten französischen Komiker ansieht, aber Yasmin war überhaupt nicht schockiert, weil sie nach Mums Beerdigung gern die Simpsons gesehen hätte und es nur wegen Lila bleiben ließ …
    Yasmin blickt von ihren Füßen auf und die Treppe zu Asif hinunter, während sie überlegt, ob eines dieser Ereignisse als »besonders« einzustufen sei. Seit Asifs Frage sind nur wenige Sekunden vergangen, und alle diese Bilder und noch viele weitere wirbeln ihr hartnäckig und gestochen scharf im Kopf herum; jedes fühlt sich anders an, ist anders geformt, schmeckt anders und klingt mit einer anderen Musik, jeder erinnerte Moment ist genauso gegenwärtig, laut und eindringlich wie der nächste, als forderten sie alle, Yasmin solle sie als etwas Besonderes auswählen, obwohl sie weiß, dass wahrscheinlich alle völlig irrelevant sind. Yasmin heftet den Blick auf das Glas in Asifs Hand und sagt, ohne weiter zu zögern: »Ja, ich habe heute Mittag Orangensaft getrunken. Normalerweise ist der schon aus, wenn ich in die Cafeteria komme, aber heute war noch was da.« Sie ist zufrieden mit sich, weil sie diese kleine Leistung abgeliefert hat: Er hat gefragt, und sie hat geantwortet, das ganz normale Ping-Pong-Gespräch, bei dem der Ball schnell genug zurückgeschlagen werden muss und nicht von der Platte springen darf. Bei diesem Spiel heute gibt es keine Zuschauer; wären aber welche da, dann würden sie nach links, nach rechts und wieder nach links gucken, wenn Asifs Worte und dann ihre, ping pong , über das unsichtbare Netz fliegen, von einem Bewusstsein zum anderen. Was sie erzählt hat, interessiert sie selbst nicht im Geringsten, aber sie hofft, dass Asif es interessant findet.
    Asif lächelt sie ermutigend an. »Schön! In unserer Bürokantine gibt’s gar keinen Orangensaft. Nur jede Menge Früchte-Smoothies in ausgefallenen Mischungen. Du warst schon mal mit mir dort, weißt du noch?« Yasmin erwidert sein Lächeln, eine wichtige mimische Reaktion, damit er zufrieden ist, denn sie zeigt ihm damit, ja, sie erinnert sich. Aber das bewusste Lächeln lenkt sie ab, sie bekommt nicht richtig mit, was er sagt, und merkt, dass sie den Ball von der Platte hat rollen lassen. Bäte sie Asif, seinen letzten Satz zu wiederholen, würde er ihren Patzer bemerken, deshalb brummt sie nur bejahend, nachdem sie schon aufgehört hat zu lächeln. Das kommt bei Asif so an, als stimme sie seinen letzten Worten mit unnötigem Ernst zu, um das Gespräch wirkungsvoll zu beenden, deshalb bemüht er sich nicht weiter, als sie die Treppe hinaufgeht. Kurz darauf hört er aus ihrem Zimmer die vertraute Titelmelodie der Simpsons , die er früher so gern mochte, heute aber abgrundtief hasst.

Wo sie einmal lebte
     
     
     

     

     
    Als Lila um die Ecke biegt, zu dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist, spürt sie an Oberarmen und Schultern das alte, rasende Jucken. Es überkommt sie wie Schüttelfrost. Sie sehnt sich geradezu danach, sich zu kratzen, sich wie verrückt zu zerschrammen, die Hautblasen aufzureißen; sie spürt in sich das Verlangen

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