Als ich lernte zu fliegen
Als ob es ihn nicht gäbe
An Asif Declan Kalil Murphy nagt eine stumme Wut, wenn er an seinen Namen denkt. Und an seine früh verstorbenen Eltern. Denen nimmt er nicht nur seinen Namen übel, sondern noch vieles andere, nicht zuletzt ihren verfrühten Abgang aus diesem Leben. An seinem Namen stört ihn, dass er viel zu hohe Erwartungen weckt, einen faszinierenden Exoten verspricht, der den spleenigen Charme des Iren mit der poetischen Mystik des indischen Subkontinents verbindet. Diese Messlatte ist für Asif zu hoch; deshalb legt er seine Flugbahn wie eine schwirrende Motte lieber etwas tiefer, meidet Situationen, in denen er sich namentlich vorstellen muss, und versteckt sich ansonsten hinter seinen Initialen. Es fällt ihm viel leichter, A. Murphy zu sein, a Murphy, »ein« Murphy wie jeder andere, einer in der Masse irischer Einwanderer, die Nordlondon überschwemmen. Oder besser noch, einfach A. M., I am, »ich bin«. Ich bin, was ich bin, denkt Asif, als seine U-Bahn in die trostlosen Tiefen von Finchley Central rumpelt, wo die Bahnsteigkanten rutschig vom Regen sind und es aus unbekannter Quelle nach Ammoniak stinkt. Ich bin, was ich bin, sinniert er, nichts Besonderes, habe weder interessante Macken, noch bin ich kreativ, sondern nur unscheinbar, zum Gähnen langweilig, absoluter Durchschnitt, ein kleiner Niemand eben. Irgendwann, denkt er, muss er wirklich aufhören, seinen Eltern die Schuld daran zu geben. Aber noch ist es nicht so weit. Er ist immer noch jung, gerade mal dreiundzwanzig, in ihm schwelt vermutlich noch genug Groll für Jahre. Er ist Buchhalter wie zuvor seine pakistanisch-stämmige Mutter; ihm fehlt ihr starker Wille, dafür hat er ihre labile Gesundheit geerbt. Sein Vater war ein Held; er starb auf einer Friedensmission, mehrere Jahre, bevor das schwache Herz seiner Frau versagte. Asif weiß, dass er bei Weitem nicht so mutig, aber ebenso pflichtbewusst ist wie sein Vater und ebenso gern Befehle ausführt. Es kommt ihm vor wie ein schlechter Scherz, dass genau diese Eigenschaften, die seinen Vater das Leben gekostet haben, auch ihm selbst ein eigenes Leben verwehren. Asif ist keiner, der ständig flucht, aber er gibt gern zu, dass er vor Aufregung eine Gänsehaut bekam, als er zum ersten Mal das rebellische Gedicht von Philip Larkin hörte, natürlich aus Lilas Mund:
Mama und Papa, die versau’n dich,
vielleicht nicht mit Absicht, aber sie tun’s,
verpassen dir ihre eigenen Macken
und extra für dich noch ein paar dazu.
Das war genial auf den Punkt gebracht. Als wäre zu einer Melodie, die er schon sein Leben lang vor sich hinsummte, endlich der passende Text geschrieben worden.
Asif steigt die Treppe des U-Bahnhofs hinauf, kehrt der schäbigen High Street den Rücken zu und geht durch schmale Alleen nach Hause. Er hat das Haus seiner Eltern geerbt, mit denen er so hadert, und wohnt darin mit seiner jüngsten Schwester Yasmin. Schmutz und Unordnung bestimmen in Finchley das Straßenbild, die knorrigen, kränkelnden Bäume sind alles andere als idyllisch, trotzdem ist ihm dieser Gang zur U-Bahn und zurück die liebste Zeit des Tages. Da muss er sich nicht wie an seinem Arbeitsplatz sorgen, ob er genug leistet, ob er bei der nächsten Beurteilung »die Erwartungen durchweg erfüllt« oder »die Erwartungen durchweg enttäuscht«. Und er muss sich auch nicht vor ganz ähnlichen Dingen fürchten wie zu Hause, vor der wortlosen Beurteilung durch Yasmins betreuende Ärzte und Therapeuten. Der Weg zur U-Bahn ist für Asif eine Art Freiraum, dort ist er nicht schlechter oder anders als alle anderen. Er stellt sich gern vor, dass er geheime Superkräfte besitzt, denn er ist unsichtbar in seinem schicken Anzug, seinem tadellos gebügelten Hemd, seinen guten Schuhen und der zerschlissenen Aktentasche, die er unbegreiflicherweise trägt wie einen Siegespreis, als hätte sie eine Geschichte – ähnlich stolz würde man vielleicht eine gebrochene Nase zur Schau tragen. Asif ist einer dieser jungen Männer mit nettem Gesicht, die keiner bemerkt.
Als er in seine Straße einbiegt, klingelt sein Handy. Er bleibt vor dem Laden an der Ecke stehen, von wo er sein Haus voll im Blick hat, und sieht, wie sich im oberen Fenster die Vorhänge bewegen. Yasmin hält nach ihm Ausschau, wie immer zwischen sechs und sechs Uhr dreißig. Er weiß aus früheren Erfahrungen, dass sie in Panik ausbricht, wenn sie ihn nicht sieht, und weicht deshalb nie ohne Vorwarnung von
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