Als ich unsichtbar war
ihm habe, sind Papierreste und altes Spielzeug, und ich weiß, dass er mir nie real erscheinen wird. Er wird ein Schatten für mich bleiben, eine Erinnerung, festgehalten als irgendjemand Unbekanntes auf einem verblassenden Foto.
Joanna umarmt mich noch heftiger, während ich weiter Tränen vergieße. Ich weine und weine, und ich kann meinen Kummer über das, was so viele Menschen verloren haben, nicht bändigen. Auch wenn mir die Umarmung von Joanna momentan nur bedingt hilft, weiß ich doch, dass sie mich nie wieder so wie jetzt trösten muss. In meinem Inneren ist ein Damm gebrochen, indem ich mich der Vergangenheit gestellt habe. Noch beweine ich sie. Doch ich hoffe ihr schon bald ein letztes »Auf Wiedersehen!« zurufen zu können.
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Ein neues Leben
U nsere Wohnung in England ist so winzig, dass mein elektrischer Rollstuhl zu groß für sie ist. In meinem normalen Rollstuhl kann ich mich ungehindert nur auf einem schmalen Streifen im Flur bewegen, und bei dem Versuch, mit dem Wasserkocher und dem Toaster fertig zu werden, habe ich mich bereits mehrfach verbrannt. Ein Spültuch habe ich in Brand gesetzt, und zum Putzen der Küchenfliesen benutzte ich Möbelpolitur. Aber die Rennstrecke von zwei Metern Flur, die ich beherrsche, ist mein ganz persönlicher Hollywood Boulevard, der Garten, in den ich durch das Fenster hinausschauen kann, ist Alhambra, und die Küche, in der ich meine Kochversuche mache, ist das feinste Restaurant von ganz Paris. Ich hatte mich gewaltig getäuscht, die einzigen nennenswerten Herausforderungen seien am Arbeitsplatz oder im Studium anzutreffen, wo es doch im täglichen Leben nur so davon wimmelt.
In den Monaten seit meiner Ankunft in England bin ich kräftiger geworden, und in der Wohnung kann ich mich einigermaßen gut hin und her bewegen, indem ich mich mit den Füßen von den Holzdielen abstoße. Allerdings sind meine Arme noch nicht stark genug, um den Rollstuhl zu lenken, doch ich kann jetzt den ganzen Tag lang aufrecht sitzen. Die linke Hand ist noch unbrauchbar, aber die rechte wird mit der Zeit immer zuverlässiger. Ich versuche nur ganz selten, beide zu benutzen. Stattdessen erledige ich so gut wie alles mit der rechten Hand, und meinem Körper scheint es zu bekommen, mit neuen Anforderungen konfrontiert zu werden, denn Erfolge und Misserfolge halten sich ungefähr die Waage. Das Öffnen von Flaschen fällt mir noch schwer, wohingegen mir das Einfüllen von Kaffeepulver in die Tassen jetzt gelingt; andererseits ist das Zubinden der Schnürsenkel immer noch unmöglich, während ich keine Schwierigkeiten habe, den Staubsauger auf dem Holzfußboden herumzuschieben.
Dennoch liegt noch sehr viel buchstäblich außerhalb meiner Reichweite. Ich fühle mich nutzlos, wenn ich Joanna beim Aufhängen der Gardinen zuschaue, oder ich starre auf gewisse Sachen im Geschirrschrank, die unerreichbar für mich sind. Als ich eines Abends beschlossen hatte, das Essen zu machen, versuchte ich, mithilfe eines Besens eine Tüte Mehl vom Regal zu angeln, und dann musste ich mit ansehen, wie der ganze Segen auf mich zusauste, ohne dass ich auch nur das Geringste dagegen tun konnte. Als Joanna abends nach Hause kam, fand sie mich – und die restliche Wohnung – unter einer feinen Decke Mehl vor.
Der schlimmste Fehler unterlief mir allerdings, als ich mich als Gärtner versuchte. Joanna hatte so lange nach einer Wohnung mit Garten gesucht, dass ich bestrebt war, diesen in tadellosem Zustand zu halten. Als daher der Löwenzahn strahlend gelb aus dem Gras hervorzusprießen begann, fasste ich den Entschluss, da müsse etwas geschehen. Doch nachdem ich den Löwenzahn – und den übrigen Rasen – äußerst sorgfältig mit einem Unkrautvertilgungsmittel besprüht hatte, wachten wir am nächsten Morgen auf und fanden einen gelben Rasen vor. Uns blieb nichts anderes übrig, als dessen verzweifelten Todeskampf zu verfolgen, nachdem wir begriffen hatten, was ich falsch gemacht hatte. Jetzt haben wir die Erde mit Grassamen versorgt und hoffen inbrünstig, der in England so zuverlässig fallende Regen möge den neuen Rasen inspirieren, möglichst schnell zu wachsen.
Ich arbeite freiberuflich als Webdesigner, doch die restliche Zeit verbringe ich als Hausmann in der Ausbildung. Ich genieße es, die Führung eines Haushalts zu lernen, und Joanna beklagt sich dermaßen wenig über meine Fehler, dass ich mich ernsthaft frage, ob sie überhaupt mitbekommt, wie unfähig ich bin.
»Was sollen wir nur
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