Als Mutter verschwand
ein Bord.
Bevor deine Frau verschwunden ist, hast du überhaupt nie dran gedacht, wie schmerzlich es für sie gewesen sein muss, dass du nie über Kyun reden wolltest. Du dachtest: Wozu soll es gut sein, über Vergangenes zu sprechen? Als deine Tochter sagte: »Der Arzt hat gefragt, ob es etwas gab, das Mama einen schweren Schock versetzt hat. War da etwas, was ich nicht wei�«, hast du den Kopf geschüttelt. Als sie sagte: »Der Arzt meint, es wäre gut, wenn sie zu einem Psychiater ginge«, fuhrst du dazwischen: »Wozu denn ein Psychiater?« Für dich war Kyun immer etwas, das du mit der Zeit vergessen musstest, und inzwischen fühlte es sich an, als ob du ihn wirklich vergessen hättest. Als sie die fünfzig überschritten hatte, sagte selbst deine Frau: »Ich träume nicht mehr von Kyun. Vielleicht ist er ja jetzt in der anderen Welt.« Und du dachtest, deine Frau käme jetzt auch damit zurecht, so wie du. Erst in den letzten Jahren fing deine Frau wieder an, von Kyun zu reden; du warst schon davon ausgegangen, dass sie ihn vergessen hatte.
Eines Nachts, vor ein paar Monaten, rüttelte deine Frau dich wach. »Glaubst du, Kyun hätte es nicht getan, wenn wir ihn auf die Mittelschule geschickt hätten?« Dann flüsterte sie, fast wie zu sich selbst: »Nach meiner Hochzeit war Kyun am nettesten zu mir ⦠Ich war seine Schwägerin, aber ich konnte ihn nicht mal auf die Mittelschule schicken, obwohl er es unbedingt wollte. Ich glaube nicht, dass er schon in der anderen Welt ist; er erscheint mir wieder im Traum.«
Du hast dich brummend auf die andere Seite gedreht, aber deine Frau sprach weiter. »Warum warst du so? Warum hast du ihn nicht zur Schule gehen lassen? Hat er dir denn gar nicht leidgetan, wenn er so geweint hat, weil er auf die Schule wollte? Er hat immer gesagt, er würde schon irgendwie weiterkommen, wenn wir ihn nur anmelden würden.«
Du wolltest nicht über Kyun sprechen, mit niemandem. Kyun war auch eine Narbe auf deiner Seele. Obwohl der Aprikosenbaum nicht mehr da war, wusstest du noch genau, wo Kyun gestorben war. Du wusstest, dass deine Frau manchmal auf diese Stelle starrte. Du wolltest die Narbe nicht wieder aufreiÃen. Es gab schlieÃlich Schlimmeres im Leben.
Du räusperst dich ein paarmal.
Erst jetzt, wo deine Frau verschwunden ist, denkst du, dass du in jener Nacht mit deiner Frau über Kyun hättest reden sollen. Kyun blieb im Gedächtnis deiner Frau, auch als immer mehr anderes daraus verschwand. Es kam öfter vor, dass deine Frau mitten in der Nacht ins Bad hinausrannte und sich neben der Toilette verkroch. Sie wedelte abwehrend mit den Händen und schrie: »Ich warâs nicht! Ich warâs nicht!« Wenn du sie dann gefragt hast, ob sie schlecht geträumt habe, blinzelte sie und starrte dich mit leerem Blick an, als ob sie gar nicht wüsste, was sie da machte. Das passierte immer öfter.
Warum hast du nie darüber nachgedacht, dass deine Frau immer wieder wegen Kyun auf die Polizeiwache musste? Dass es das Gerücht gab, sie hätte ihn getötet? Warum geht dir erst jetzt auf, dass die Kopfschmerzen deiner Frau etwas mit Kyun zu tun haben könnten? Du hättest deiner Frau zuhören sollen, wenigstens ein Mal. Du hättest sie sagen lassen sollen, was sie auf dem Herzen hatte, statt dich jahrelang in Schweigen zu verschanzen und sie mit ihrer Verzweiflung alleinzulassen. Vielleicht hat dieser Druck sie ja krank gemacht. Immer öfter stand sie irgendwo verwirrt herum. Sie sagte: »Ich weià nicht mehr, was ich wollte.« Obwohl die Kopfschmerzen so schlimm waren, dass sie manchmal kaum noch laufen konnte, weigerte sie sich, ins Krankenhaus zu gehen. Und sie verbot dir, den Kindern von ihren Kopfschmerzen zu erzählen. »Wozu soll das denn gut sein? Sie haben doch so viel zu tun.«
Als die Kinder es herausfanden, spielte sie es herunter, indem sie sagte: »Ja, gestern hatte ich Kopfschmerzen, aber heute geht es mir gut!« Einmal saà sie mitten in der Nacht aufrecht im Bett, und als du ein Geräusch von dir gabst, fragte sie dich mit steinernem Gesicht: »Warum bist du all die Jahre bei mir geblieben?« Aber sie machte immer noch Würzpasten und pflückte immer noch wilde japanische Pflaumen, um Saft daraus zu pressen. Sonntags setzte sie sich hinten auf dein Motorrad, um zur Kirche zu fahren, und manchmal schlug sie vor, in ein
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