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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyung-Sook Shin
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du klein warst, fuhr zu unserem Dorf nicht mal ein Bus. Wie viel schlimmer muss es in dieser Großstadt sein, wenn es schon auf dem Land so ist? Ich wollte, es würde nicht alles gleich aussehen. Das bringt mich ganz durcheinander, ich finde nicht allein zu deinen Geschwistern. Das ist mein Problem. In meinen Augen sehen die Eingänge und Wohnungstüren alle gleich aus, aber alle hier finden nach Hause, auch wenn es dunkel ist. Sogar die Kinder.
    Aber du wohnst hier, wo es schön ist.
    Wo ist das hier überhaupt? Puam-dong in Chongno-gu in Seoul … Das hier ist Chongno-gu? Chongno-gu … Chongno-gu … oh, Chongno-gu! Da hat dein Bruder gewohnt, als er gerade geheiratet hatte. Im Viertel Tongsung-dong im Bezirk Chongno-gu. Damals hat er immer gesagt: »Mutter, das hier ist Chongno-gu. Ich bin jedes Mal stolz, wenn ich meine Adresse hinschreibe. Chongno ist das Zentrum von Seoul, und jetzt wohne ich hier.« Und dann kam immer: »Ein Bursche vom Land hat es nach Chongno geschafft.« Wenn ich mich recht erinnere, waren es lauter kleine Mietshäuser, die eingequetscht zwischen lauter anderen an einem steilen Hügel klebten, der Naksan oder so ähnlich hieß. Ich war ganz außer Atem, wenn ich endlich oben war. Ich dachte, wie kann es mitten in dieser großen Stadt so was geben? Das fühlt sich ja noch abgelegener an als unser Dorf! Aber das sage ich ja auch hier, wo du wohnst. Wie kann es in dieser großen Stadt so was geben?
    Als du letztes Jahr zurückkamst, nach drei Jahren Amerika, warst du enttäuscht, dass ihr von dem Geld, das ihr hattet, nicht mal eine Wohnung wie eure alte mieten konntet. Aber dann hast du dieses Dorf hier gefunden. Es ist nämlich wirklich wie ein Dorf. Es gibt ein Café und eine Kunstgalerie, aber es gibt auch eine Mühle. Ich habe gesehen, wie sie Reisnudeln machen. Ich habe lange zugeschaut, weil es mich an früher erinnert hat. Ist schon bald Neujahr? Lauter Leute, die diese langen, weißen Reiskuchen gemacht haben. Selbst in dieser großen Stadt gibt es ein Dorf, wo man solche Reisnudeln zu Neujahr macht! Ich habe, wenn Neujahr kam, immer einen großen Eimer Reis zur Mühle getragen, um Reiskuchen zu machen. Ich habe auf meine eiskalten Hände gehaucht und gewartet, bis ich dran war.
    Es muss aber ziemlich unpraktisch sein, hier mit drei Kindern zu wohnen. Und dein Mann hat sicher eine lange Fahrt zu seiner Arbeit in Sollung. Gibt es hier überhaupt irgendwo einen Markt?
    Einmal hast du zu mir gesagt: »Wenn ich vom Einkaufen komme, habe ich immer das Gefühl, ich habe einen Berg Sachen gekauft, aber es verschwindet alles so schnell. Ich muss drei Joghurts kaufen, damit ich jedem Kind eins geben kann. Wenn ich gleich Joghurts für drei Tage kaufen will, sind das schon neun. Neun Stück, Mama! Es ist beängstigend. Ich kaufe so viel Zeug, und dann ist schon wieder alles weg.« Du hast mit den Armen gezeigt, wie viel Zeug du kaufst. Aber das ist doch nur normal, bei drei Kindern.
    Dein Ältester, der von der Kälte ganz rote Backen hat, will gerade sein Fahrrad draußen an die Mauer lehnen, da fällt ihm was auf. Er stürmt durchs Tor und ruft: »Mama!« Du kommst aus der Haustür, in einer grauen Strickjacke, das Baby auf dem Arm.
    Â»Mama! Der Vogel!«
    Â»Welcher Vogel?«
    Â»Da, vor dem Tor!«
    Â»Wo?«
    Der Älteste zeigt wortlos aufs Tor. Du schlägst dem Baby die Kapuze hoch und gehst zum Tor. Draußen vor dem Tor liegt ein grauer Vogel am Boden. Er hat auf der Oberseite dunkle Flecken. Die Flügel sehen steifgefroren aus. Ich seh dir an, dass du an mich denkst, als du auf den Vogel schaust. Übrigens gibt es um dein Haus herum viele Vögel, Liebes. Warum gibt es hier so viele Vögel? Diese Wintervögel umkreisen dein Haus, ohne einen Piep von sich zu geben.
    Vor ein paar Tagen hast du eine frierende Elster unter deinem Quittenbaum gesehen. Weil du dachtest, sie hätte Hunger, bist du nach drinnen gegangen und hast altes Brot zerkrümelt und unter den Baum gestreut. Da hast du auch an mich gedacht. Du hast dran gedacht, wie ich immer eine Schüssel mit altem Reis rausgebracht und den Inhalt unterm Dattelpflaumenbaum verstreut habe, für die Vögel, die auf den kahlen Zweigen saßen. Am Abend waren da über zwanzig Vögel unter dem Quittenbaum, wo du die Brotkrümel verstreut hattest. Manche hatten Flügel, so lang wie eine Hand. Von

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