Als Mutter verschwand
da an hast du immer Brotkrümel unter dem Quittenbaum ausgestreut, für die hungrigen Vögel. Aber dieser Vogel sitzt vor dem Tor, nicht unterm Quittenbaum. Ich weiÃ, was das für ein Vogel ist. Ein Kiebitzregenpfeifer. Komisch â das ist ein Vogel, der nur im Schwarm unterwegs ist, was macht der hier? Dieser Vogel gehört ans Meer. Ich habe solche Vögel in Komso gesehen, wo dieser Mann gewohnt hat. Kiebitzregenpfeifer, die bei Ebbe im Watt nach was Fressbarem suchten.
Du stehst reglos vor eurem Tor. Der Ãlteste rüttelt an deinem Arm. »Mama!«
Du sagst nichts.
»Ist er tot?«
Du antwortest nicht. Du schaust nur mit düsterem Gesicht auf den Vogel.
»Mama! Ist der Vogel tot?«, fragt deine Tochter, die herausgerannt gekommen ist, als sie euch gehört hat, aber du antwortest nicht.
Das Telefon klingelt.
»Mama, die Tante ist dran!«
Das muss Chi-Hon sein. Du nimmst das Telefon, das dir deine Tochter hinstreckt.
Dein Gesicht verfinstert sich. »Was sollen wir denn machen, wenn du weg bist?«
Chi-Hon will wohl wieder mit dem Flugzeug verreisen. Deine Augen sind feucht. Ich glaube, deine Lippen zittern auch. Plötzlich schreist du ins Telefon: »Du bist wirklich unmöglich!« Liebes, so bist du doch gar nicht. Man schreit doch seine ältere Schwester nicht so an.
Du knallst sogar den Hörer auf. Das macht doch sonst immer deine Schwester. Das Telefon klingelt wieder. Du schaust es eine ganze Weile an, und als es nicht aufhört, nimmst du ab.
»Tut mir leid, Schwester.« Deine Stimme ist jetzt ruhiger. Du hörst dir schweigend an, was deine Schwester am anderen Ende sagt. Dann wird dein Gesicht rot. Du schreist wieder: »Was? Santiago? Vier Wochen?« Dein Gesicht wird noch roter.
»Du fragst mich, ob du fahren kannst? Was fragst du überhaupt noch, wenn duâs sowieso schon beschlossen hast? Wie kannst du so was tun?« Deine Hand, die den Hörer hält, zittert. »Heute lag da ein toter Vogel vor meinem Gartentor. Ich habe einfach so ein schreckliches Gefühl. Ich glaube, Mama ist was passiert! Warum haben wir sie immer noch nicht gefunden? Warum? Und jetzt willst du auch noch verreisen! Ihr seid doch alle gleich, du auch! Wir wissen nicht, ob Mama irgendwo da drauÃen in dieser Eiseskälte herumirrt, und du machst einfach, wozu du gerade Lust hast?«
Liebes, beruhige dich. Du musst deine Schwester verstehen. Wie kannst du so was zu ihr sagen, wo du doch weiÃt, in was für einem Zustand sie seit Monaten ist?
»Was? Ich soll mich drum kümmern? Ich? Was glaubst du, was ich tun kann, mit drei Kindern? Du läufst weg, stimmtâs? Weil es dir zu viel ist. So warst du immer schon.«
Liebes, warum tust du das? Eben hattest du dich doch wieder im Griff, aber jetzt hast du wieder den Hörer aufgeknallt und schluchzt. Das Baby weint mit. Seine Nase ist schon ganz rot. Die Stirn auch. Die Kleine fängt jetzt auch an. Der Ãlteste kommt aus seinem Zimmer und schaut euch drei an, wie ihr heult. Das Telefon klingelt wieder. Du nimmst schnell ab.
»Schwester â¦Â« Tränen laufen dir übers Gesicht. »Geh nicht! Geh nicht weg! Schwester!«
Am Ende versucht sie dich zu trösten. Es nützt nichts, also sagt sie, sie kommt dich besuchen. Du legst auf und sitzt schweigend da, mit gesenktem Kopf. Das Baby klettert dir auf den SchoÃ. Du nimmst es in die Arme. Die Kleine streichelt die die Wange. Du tätschelst ihr den Rücken. Der Ãlteste beugt sich direkt vor dir über seine Mathematikaufgaben, um dich froh zu machen. Du streichst ihm übers Haar.
Chi-Hon kommt zum Gartentor herein. »Yun!«, ruft Chi-Hon und nimmt dir das Baby ab. Das Baby, das gerade fremdelt, sträubt sich, will zu dir zurück.
»Bleib doch ein bisschen bei mir«, sagt Chi-Hon und versucht mit dem Baby zu schmusen, aber der kleine Yun heult los. Chi-Hon gibt ihn dir zurück. Sobald er wieder in den Armen seiner Mutter ist, lächelt er seine Tante an; an seinen Wimpern hängen noch Tränen. Chi-Hon schüttelt den Kopf und tätschelt dem Baby die Wange. Ihr sitzt schweigend da. Chi-Hon, die bei diesem Schnee extra hergekommen ist, weil sie dich am Telefon nicht beruhigen konnte, sagt jetzt kein Wort. Sie sieht schrecklich aus: Ihr Gesicht ist verquollen, vor allem die Augen. Sie hat wohl schon eine ganze Weile nicht mehr geschlafen.
»Und? Verreist du nun?«, fragst du
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