Als Mutter verschwand
gleichzeitig zu. Dein Körper ist darauf trainiert, die Bedürfnisse deiner Kinder zu erfüllen. Du setzt deine Tochter an den Tisch und bürstest ihr Haar, und als der Ãlteste sagt, er will aber trotzdem skifahren gehen, versprichst du ihm, dass du mit seinem Vater drüber redest, und als das Baby hinfällt, legst du schnell die Bürste weg, hebst es auf und putzt ihm die Nase, nimmst dann die Bürste wieder und frisierst deine Tochter zu Ende.
Dann drehst du dich zum Fenster und schaust hinaus. Du siehst mich im Quittenbaum sitzen. Unsere Blicke treffen sich. Du murmelst: »Diesen Vogel habe ich noch nie gesehen.«
Deine Kinder schauen jetzt auch her.
»Vielleicht gehört er ja zu dem toten Vogel von gestern, Mama!« Die Kleine fasst deine Hand.
»Nein ⦠er sieht anders aus.«
»Doch, bestimmt!«
Gestern habt ihr den toten Vogel unterm Quittenbaum begraben. Der Ãlteste hat ein Loch gegraben, und die Kleine hat ein Holzkreuz gebastelt. Das Baby hat vor sich hin gequengelt. Du hast den Vogel genommen und ihm die Flügel angelegt, bevor du ihn in das Loch getan hast, und deine Tochter hat »Amen!« gesagt. Hinterher hat die Kleine ihren Vater auf der Arbeit angerufen und ihm haarklein von der Beerdigung erzählt. »Und ich hab ihm ein Holzkreuz gemacht, Papa!«
Der Wind hat das Holzkreuz umgeweht.
Während du dem Geplapper deiner Kinder zuhörst, trittst du ans Fenster, um mich besser sehen zu können. Deine Kinder kommen auch ans Fenster. Oh, schaut mich nicht so an, ihr Kleinen! Es tut mir leid. Als ihr geboren wurdet, habe ich mehr an eure Mama gedacht als an euch.
Das Mädchen mit den frisch geflochtenen Zöpfen starrt mich an. Als du zur Welt kamst, Enkeltochter, konnte deine Mama dich nicht stillen. Nach der Geburt deines groÃen Bruders war sie nicht mal eine Woche im Krankenhaus, aber bei dir gab es Komplikationen, und sie musste über einen Monat in der Klinik bleiben. Damals habe ich mich um deine Mama gekümmert. Als deine andere GroÃmutter zu Besuch ins Krankenhaus kam, hast du geschrien, und deine GroÃmutter hat zu deiner Mama gesagt, sie soll dir die Brust geben, damit du aufhörst zu schreien. Als ich zusah, wie deine Mama dich anlegte, obwohl sie keine Milch hatte, habe ich dich wütend angeschaut. Ich habe deine andere GroÃmutter weggeschickt, dich deiner Mama aus den Armen genommen und dir sogar einen Klaps auf den Po gegeben â einem Neugeborenen! Es heiÃt ja, wenn ein Baby schreit, sagt die GroÃmutter väterlicherseits: »Das Baby schreit, du musst es stillen.« Die GroÃmutter mütterlicherseits aber sagt: »Dieser Schreihals macht seine Mama ja fix und fertig!« Genau so war es. Obwohl du dich später bestimmt nicht an diesen Tag erinnern konntest, mochtest du deine andere GroÃmutter immer lieber als mich. Wenn du mich gesehen hast, hast du gesagt: »Guten Tag, GroÃmutter!« Wenn du deine andere GroÃmutter gesehen hast, hast du entzückt »Oma!« gerufen und bist in ihre Arme gerannt. Ich hatte jedes Mal ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, dass du dich vielleicht doch an diesen Klaps auf den Po erinnerst.
Wie hübsch du geworden bist!
Du hast so dickes, schwarzes Haar, jeder Zopf eine richtige Faustvoll, genau wie bei deiner Mama, als sie klein war. Deine Mama konnte nie Zöpfe tragen. Sie wollte gern langes Haar, aber ich habe es ihr immer kurz geschnitten. Ich hatte einfach nicht die Zeit, sie auf den Schoà zu nehmen und ihr die Haare zu bürsten. Deine Mama erfüllt sich wohl ihren Kindheitstraum an dir. Sie schaut mich an, aber ihre Hand spielt mit deinem Haar. Die Augen deiner Mama verdüstern sich. O je, jetzt denkt sie wieder an mich.
Ich binâs, Liebes. Kannst du mich bei dem ganzen Lärm hören? Ich bin hier, um mich bei dir zu entschuldigen.
Bitte verzeih mir, dass ich so ein Gesicht gemacht habe, als du mit dem dritten Kind im Arm nach Seoul zurückkamst. Du hast mich angestarrt und schockiert »Mama!« gesagt â das lastet mir jetzt auf der Seele. Warum bloÃ? Weil du eigentlich kein drittes Kind geplant hattest? Oder weil es dir peinlich war, mir zu sagen, dass du das dritte Kind bekamst, während deine ältere Schwester noch nicht mal verheiratet war? Jedenfalls hast du uns verschwiegen, dass du in diesem fernen Land mit dem dritten Kind schwanger warst, hast dich ganz allein mit der
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