Alte Liebe: Roman
sie da am Schlauch, seit Jahren, mit einem starken gesunden Herzen. Ist es das, was wir wollen?«
»Wir müssen das jetzt unbedingt mal machen, Lore, diese Patientenverfügung.«
»Du gehst ja nicht mal zur Vorsorge zum Arzt!«
»Dafür brauch ich keinen Arzt, es gibt so Formulare, das können wir hier zu Hause machen.«
»Dann besorg die mal.«
»Mach ich. Du hast irgendwas, oder? Du hängst seit Tagen so lustlos rum.«
»Ich denk an diese Hochzeit.«
»Ich auch. Mit Schrecken.«
»Harry. Es ist unser …«
»Jaja. Aber du irrst dich, Lore. Es ist eben nicht unser Kind. Es ist eben nicht unser kleines Mädchen. Es ist eine erwachsene Frau, die nichts in ihrem Leben auf die Reihe kriegt. Man muss das endlich mal klar sehen. Den Beruf nicht, die Männer nicht – ich weiß nicht mal, was für einen Beruf sie im Grunde jetzt hat, abgebrochene Apothekerlehre, abgebrochene Schule, jedes Jahr ein Job bei einer anderen Firma …«
»Immerhin hat sie ihr Abitur nachgemacht. Mit über zwanzig und mit Kind.«
»Weil wir das Kind genommen haben und weil ich den Direktor der Abendschule … na ja, Schwamm drüber. Was tut sie jetzt, oder tut sie nichts?«
»Sie arbeitet in so einer Agentur für Literaturveranstaltungen, Lesungen und so was, Reden, Vorträge.«
»Hast du das vermittelt?«
»Ein bisschen. Ich kenn da jemand, ich hab einen Tip gegeben.«
»Wann ist diese Hochzeit?«
»Im September.«
»Im September. Na, das ist ja noch eine Weile hin. Vielleicht überlegt sie es sich bis dahin noch mal.«
»Harry! Sei nicht so, ich vertrag das zur Zeit einfach nicht.«
»Was ist denn los?«
»Morgen wäre Mutter dreiundneunzig geworden. Morgen wird Mutter dreiundneunzig.«
»Ach herrjeh. Dreiundneunzig? Seit wieviel Jahren …?«
»Seit acht.«
»Gehst du hin?«
»Natürlich geh ich hin. Es ist meine Mutter.«
»Schon lange nicht mehr. Das ist gar nichts mehr. Das atmet noch, das ist alles. Lore – komm, ich wollte dich nicht kränken. Mein Gott, Lore, wein doch nicht. Was ist denn bloß? Hm?«
»Ich weiß nicht. Alles. Überall Enttäuschung. Alles erweist sich als Betrug, oder? Letztlich?«
»Was hattest du erwartet?«
8 HARRY
Für Lore ist das Glas nie noch halb voll, sondern immer schon halb leer. Das war immer so. Du wirst noch mal so wie Frau Metzger, sage ich manchmal zu ihr. Ottilie Metzger ist unsere Nachbarin. Über achtzig, schroff, freudlos, immer nur meckern über Gott und die Welt, einsam und enttäuscht vom Leben. Ich glaube auch wirklich, dass ihr Leben ein Desaster war, aber sicher auch teilweise selbstverschuldet, mürrisch wie sie ist. Und jetzt: geistig fit, aber körperlich stark eingeschränkt und halb blind, schlurft sie vor sich hin. Durchs Haus, durch den kleinen Garten, immer nur schimpfend. Sie liebt das Wort Katastrophe. Alles ist eine Katastrophe. Ob es zu heiß ist oder zu kalt, ob es regnet oder die Sonne scheint, ob der Winter kommt oder geht, ob der Briefträger früher kommt oder später, ob er klingelt oder das Päckchen einfach vor die Haustür legt, alles ist immer eine Katastrophe. Einmal sagte ich zu ihr, Frau Metzger, Millionen Menschen in der Welt hungern und wir können nichts dagegen tun, das ist eine Katastrophe. Da winkt sie nur ab, will nichts davon wissen und beklagt, dass das Brot früher nicht so schnell schimmelig wurde wie heute und dass das eine Katastrophe sei, und dass die Bäckereifachverkäuferin ihr schon schimmeliges Brot verkaufe, weil sie wisse, dass sie fast nichts sehe.
Mein ewig wiederholtes Angebot, mich oder uns für sie einkaufen zu lassen, schlägt sie aus, denn da müsse sie sich danach bedanken und das sei ihre Sache nicht.
Ich komme ja trotzdem mit Frau Metzger irgendwie klar. Oder sagen wir so: ich grüße sie, und ihre Katastrophen sind mir egal. Aber Lore mag Frau Metzger überhaupt nicht, und meine gelegentliche Bemerkung, sie sei der manchmal ähnlich, trifft sie schwer. Meistens haben wir dann Krach. So simpel könne eben nur ein Mann denken, vor allem ein Mann wie ich. Ihre berechtigten Zweifel am Sinn des Lebens, die sich schließlich durch alle Kunst und Literatur ziehen, tue einer wie ich so billig ab. Natürlich, für mich sei ja die Welt schon in Ordnung, wenn ich ein perfekt aus der Flasche eingeschenktes Weißbier vor mir stehen hätte. Ach, Lore, so leben wir nun seit Jahrzehnten mit dem Widerspruch, dass du mich für einen schlichten, leicht zufriedenzustellenden Menschen hältst und ich dir andererseits immer
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