Alte Liebe: Roman
habe.«
»Da fällt mir nichts ein.«
»Ich bin doch anders als sie, oder? Ich habe immer Angst gehabt, so zu werden wie sie.«
»Deine Angst ist unberechtigt.«
»Das sagst du nur so, in Wirklichkeit denkst du, Gott, jetzt ist sie wie ihre Mutter.«
»Das denke ich nicht. Lore, du hattest ein anderes Leben, Schule, Bildung, Beruf, Freunde, eine lange Ehe – nicht mal das hatte sie.«
»Aber die Gene, Harry, die verdammten Gene.«
»Schau mich an. Ich sehe aus, wie mein Vater aussah, ich habe seine Sturheit und seinen Jähzorn.«
»Und das Schelmische und das Sanfte und das Beharrliche auch.«
»Und das Treue.«
»Na ja.«
»Lore, ich jedenfalls liebe dich, wie du bist.«
»So was hast du aber schon lange nicht mehr zu mir gesagt, Harry.«
»War eben keine Gelegenheit dazu.«
9 LORE
Wenn ich ehrlich bin, war die Lesung mit Martin eine Katastrophe. Na ja, ganz so schlimm nicht. Ein Desaster. Nein, auch nicht. Ach, ich weiß nicht. Es war einfach nicht so schön, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Er kannte mich gar nicht mehr. Dreimal war er schon in unserer Bibliothek, zwar über die Jahre verteilt, aber dreimal, und er guckte mich an und kannte mich nicht. Er hatte schlechte Laune, der Zug war verspätet, es goss in Strömen, das mit dem Abholen am Bahnhof hat wegen des Zugs irgendwie nicht geklappt, und er war ganz angefressen. Aber nur, bis er auf der Bühne saß. Auf der Bühne blühen sie ja alle auf. Da sind sie in ihrem Element, werden angehimmelt, da stimmt alles wieder. Es war proppenvoll, er hat etwas nuschelig, aber nicht schlecht gelesen, viel signiert, charmant geplaudert mit den alten Damen, die immer zu so was kommen, zwei, drei Fragen von Jüngeren hat er energisch abgebürstet, Kritik verträgt er ja gar nicht, und danach beim Italiener sackte er dann wieder so ein bisschen in sich zusammen, und ich hab mich dabei ertappt, mich zu langweilen. Ich wollte lieber nach Hause. Das gab’s früher nie, ich war immer so glücklich mit meinen Dichtern …
Die Dinge verschieben sich. Ich hab andere Sachen im Kopf. Ich kann nicht mehr stundenlang in diesen Kneipen sitzen und das Ego wichtiger Männer bewundern, die den Tisch mit Anekdoten unterhalten, und jedes andere Gespräch erstirbt.
Harry war nicht mit, natürlich nicht. Ich war zugleich wütend auf ihn und hab ihn beneidet um einen gemütlichen Abend ohne diese ganze Wichtigtuerei. Wie war’s?, fragte er, als ich nach Hause kam, und ich sagte Wunderbar, weil ich das immer sage, aber es stimmt nicht, und es interessiert ihn ja auch nicht wirklich. Irgendwie sind diese Dichterlesungen ein Anachronismus. Warum macht man das? Jeder kann doch selbst lesen. Und es gibt Hör-CDs. Die Autoren sehen wir im Fernsehen, sogar im Internet, warum macht man sich bei strömendem Regen auf in einen ungemütlichen Raum, um einem Mann oder einer Frau persönlich beim Vorlesen zuzuhören? Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte ich doch mit dem Job allmählich mal aufhören. Wenn die Begeisterung weg ist, soll man’s lassen, oder? Aber was tu ich dann. Dann sitz ich den ganzen Tag mit Harry hier zu Hause und wir öden uns an. Früher hatten wir immer Pläne, wir haben gesagt, wenn wir mal alt sind, wenn wir mal Zeit haben, dann aber … Ja, jetzt sind wir alt, und was ist? Keine Kraft, schwimmen zu gehen. Keine Lust auf Reisen und schlechte Hotelbetten. Das Fernsehprogramm eine Zumutung. Den ganzen Tag lesen kann man nicht. Einkaufen, kochen, Mittagsschlaf, Tee, kleiner Spaziergang, Besuch bei Mutter, Abendnachrichten, Glas Wein, Gespräch über Gloria, ab ins Bett. Was ist das für ein Leben? Wahrscheinlich sogar noch ein glückliches, gemessen an anderen Ländern, Menschen, Umständen. Aber mir kommt alles so grau und müde vor. Es ist nichts mehr da, was mich begeistert, ich habe das Freuen verlernt und weiß nicht, wann eigentlich es mir abhandenkam. Als Gloria ging? Als Harry pensioniert wurde und so behäbig in Strickjacken hier herumsaß, ohne irgendeinen Ansporn? Aber zu was auch Ansporn. Ich hab ja selbst keine Lust zu großen Taten. Gut, ich geh ab und zu ins Theater, in ein Konzert. Manchmal geht er sogar mit. Und immer hab ich schon in der Pause das Gefühl, dass ich eigentlich lieber wieder zu Hause wäre. Sind wir verblödet? Wird man zwangsläufig langweilig und anspruchslos im Alter? Oder ist das auch ein Schutz, ein ganz normaler Abbau, ein Nachlassen der Kräfte, das Schonprogramm sozusagen?
Ich sollte froh sein, dass wir gesund sind.
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