Alte Meister: Komödie (German Edition)
sondern nur, wenn ich Lust und Laune habe. Und will ich Reger treffen, muß ich ja nicht unbedingt ins Kunsthistorische Museum gehen, ich brauche nur das Hotel Ambassador aufzusuchen, in das er ja immer, nachdem er das Kunsthistorische Museum verlassen hat, geht. Im Ambassadortreffe ich Reger ja, wenn ich will, täglich. Im Ambassador hat er seine Fensterecke und zwar den Tisch neben dem sogenannten Judentisch , der vor dem Ungarntisch steht, der hinter dem Arabertisch steht, wenn man von Regers Tisch aus gegen die Hallentür blickt. Ich gehe natürlich viel lieber ins Ambassador, als ins Kunsthistorische Museum, aber wenn ich es nicht erwarten kann, bis Reger ins Ambassador kommt, gehe ich schon gegen elf ins Kunsthistorische Museum, um ihn zu treffen, meinen Gedankenvater. Den Vormittag verbringt Reger im Kunsthistorischen Museum, den Nachmittag im Ambassador, gegen halb elf geht er ins Kunsthistorische Museum, gegen halb drei ins Ambassador. Bis zu Mittag ist ihm die Achtzehngradtemperatur im Kunsthistorischen Museum die angenehme, am Nachmittag fühlt er sich wohler im warmen Ambassador, in welchem es immer eine Temperatur von dreiundzwanzig Grad hat. Am Nachmittag denke ich nicht mehr so gern und nicht mehr so intensiv nach, sagt Reger, da kann ich mir das Ambassador leisten. Das Kunsthistorische Museum ist seine Geistesproduktionsstätte , so er, das Ambassador ist sozusagen meine Gedankenaufbereitungsmaschine . Im Kunsthistorischen Museum fühle ich mich ausgesetzt, im Ambassador geborgen, so er. Dieser Gegensatz, Kunsthistorisches Museum – Ambassador, ist es, den mein Denken wie nichts sonst braucht, das Ausgesetztsein einerseits, die Geborgenheit andererseits, die Atmosphäre im Kunsthistorischen Museum einerseits und die Atmosphäre im Ambassador andererseits, das Ausgesetztsein einerseits, die Geborgenheit andererseits, mein lieber Atzbacher; mein Denkgeheimnis beruht darauf, sagte er, daß ich den Vormittag im Kunsthistorischen Museum und den Nachmittag im Ambassador verbringe. Und was gibt es Gegensätzlicheres, als das Kunsthistorische Museum, also die Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums, und das Ambassador. Ich habe mir das Kunsthistorische Museum genauso zur Geistesgewohnheit gemacht, wie das Ambassador,sagte er. Die Qualität meiner Kritiken für die Times, an der ich übrigens schon vierunddreißig Jahre mitarbeite, sagte er, beruht tatsächlich darauf, daß ich das Kunsthistorische Museum und das Ambassador aufsuche, das Kunsthistorische Museum jeden zweiten Vormittag, das Ambassador jeden Nachmittag. Allein diese Gewohnheit hat mich nach dem Tod meiner Frau gerettet. Mein lieber Atzbacher, ohne diese Gewohnheit wäre ich auch schon gestorben, sagte Reger gestern. Jeder Mensch braucht eine solche Gewohnheit zum Überleben, sagte er. Und ist es die verrückteste aller Gewohnheiten, er braucht sie. Regers Verfassung scheint sich gebessert zu haben, seine Sprechweise ist wieder die gleiche wie vor dem Tod seiner Frau. Zwar sagt er, daß er jetzt den sogenannten toten Punkt überwunden habe, aber er wird doch zeitlebens darunter leiden, von seiner Frau allein gelassen zu sein. Immer wieder sagt er, daß er in dem lebenslänglichen Irrtum gewesen sei, er lasse seine Frau zurück, er sterbe früher als sie, weil ihr Tod doch so plötzlich gekommen war, war er noch ein paar Tage vor ihrem Tod felsenfest davon überzeugt gewesen, sie werde ihn überleben; sie war die Gesunde, ich war der Kranke, so, in dieser Meinung und in diesem Glauben, lebten wir immer, sagte er. Kein Mensch ist je so gesund gewesen, wie meine Frau, sie lebte ein Leben in Gesundheit, während ich immer eine Existenz in Krankheit, ja eine Existenz inTodeskrankheit geführt habe , sagte er. Sie war die Gesunde, sie war die Zukunft, ich war immer der Kranke, ich war die Vergangenheit, sagte er. Daß er einmal ohne seine Frau und tatsächlich allein zu leben habe, sei ihm nie zu Bewußtsein gekommen, das war kein Gedanke für mich, so er. Und wenn sie schon vor mir stirbt, so sterbe ich ihr nach, möglichst rasch, habe er immer gedacht. Jetzt müsse er einerseits mit dem Irrtum, daß sie nach ihm sterbe, genauso fertig werden, wie mit der Tatsache, daß er sich nach ihrem Tod nicht umgebracht habe, ihr also nicht, wie er es vorgehabt habe, nachgestorben sei. Da ich immer gewußthabe, daß sie alles ist für mich, habe ich naturgemäß an ein Weiterexistieren nach ihr nicht denken können, mein lieber Atzbacher, sagte er. Aus
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