Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
1949
Der Mond ist fast voll und wirft Schatten, die bläulich sind, und sie springen sie an, in unsteten Schemen. Sie blickt nicht zurück und läuft schneller, ein leises Stakkato, Triolen. Eins zwei drei, eins zwei drei. Sie ist auf dem Weg, sie wagt es tatsächlich.
Wie ein schwarzer Koloss thront das Gutshaus vor ihr, doch seine Fenster gleißen im Mondlicht, verwunschene Spiegel. Sie schlägt einen Bogen um den Panzer, presst sich in den Schatten der Mauer, die den Gutspark umfriedet. Früher gab es hier Blumen und Obstbäume. Früher, bevor die Russen kamen.
Die Soldaten sind im Hof. Sie riecht das Feuer, hört ihre Stiefel im Kies, das Klirren von Flaschen und Gläsern, ihr kehliges Lachen. Dann greift jemand zum Akkordeon und sie singen.
Katjuscha
, mit einem falschen Halbton am Ende der Strophe, das bringt sie zum Lächeln.
Kann sie ihm trauen, kann sie das wirklich? Sie können nicht alle böse sein, egal, was alle immer behaupten, und er wird allein sein, das hat er versprochen.
Oi, tý pyesnya, pyesen’ka dyevitshya … Ach, du Lied, du kleines Lied eines Mädchens, fliege hinter der hellen Sonne her.
Dunkel klingen die russischen Melodien, wehmütig, voll ungestillten Verlangens.
Katjuscha
, das ist das Soldatenliebchen, die am Flussufer treu unter blühenden Apfelbäumen wartet, hat er ihr erklärt. Der Soldat soll sie singen hören und Hoffnung schöpfen in der Fremde.
Eine Grille zirpt, etwas raschelt im Gras. Ist er das, jetzt schon, so früh? Sie fährt sich mit den Fingern durch die Haare, versucht im Gestrüpp hinter sich etwas zu erkennen. Sie hat alles tausendmal überlegt, die Entscheidung hinausgezögert und mit sich gehadert, ihrer Pflicht, ihrer Liebe, ihren Träumen. Aber er meint es gut mit ihr und er wird allein kommen, das hat er versprochen.
Wieder ein Rascheln, noch näher jetzt, und ein Käuzchen, das schreit. Aber nein, das ist ja kein Nachtvogel, das ist ein Kind, ein kleines Mädchen. Das muss ein Albtraum sein, ein böser Spuk. Doch das Mädchen weint lauter und ruft ihren Namen, und es ist nicht allein, es ist bei den Soldaten.
Ihre Schuld ist das, ihre! Dieser Schmerz, wie von Sinnen. Sie rennt los, stolpert, fängt sich, läuft weiter. Schnell muss sie sein, schnell.
Teil I
WINTERREISE
1. Rixa
Deutschland war weiß und fremd, Berlin unter einer Eisschicht begraben. Ich hatte das gewusst. Ich hatte versucht, mich dagegen zu wappnen, und ein zweites Paar Socken und einen Pullover ins Handgepäck gesteckt. Aber das reichte nicht, reichte bei Weitem nicht, wurde mir klar, während das Flugzeug dieser schneestarren Welt entgegensank. Ich würde mir Winterkleidung kaufen müssen, auch wenn ich nicht vorhatte, lange zu bleiben. Ich würde mir gleich ein Taxi nehmen müssen. Ein Taxi wohin? Zu dem Hinterhofzimmer, in dem ich gemeldet, aber nicht zu Hause war? Zu der Wohnung meiner Mutter? Zu der Polizeiwache, von der aus ich angerufen worden war?
Frau Hinrichs, Ricarda Hinrichs? Ihre Mutter ist Dorothea Hinrichs, geborene Retzlaff, geboren am 20. Dezember 1945 in Güstrow/Mecklenburg?
Ich wandte den Blick vom Fenster und betrachtete das Gewimmel grinsender gelber Fische, das die Air-Seychelles-Sitzpolster zierte. Der Anruf hatte mich während meines ersten freien Tags seit Monaten erreicht, an einem schneeweißen Strand unter Palmen, ich kam gerade vom Schnorcheln. Ich war gerannt, um ihn nicht zu verpassen, weil ich dachte, es sei Lorenz.
Es tut mir sehr leid, Frau Hinrichs
…
Eine winzige Pause war nach dieser Eröffnung entstanden. Ein sehr präzise gesetztes Rubato, kaum wahrnehmbar und doch deutlich genug, um mich begreifen zu lassen, dass das, was nun folgen würde, nichts Gutes war, und im selben Moment verstand ich, dass ich schon sehr lange auf solch einen Anruf gewartet hatte – ohne es zu wollen oder mir auch nur einzugestehen.
Ihre Mutter hatte einen Autounfall. Sie ist vorgestern Nacht gegen 23:30 Uhr an der Anschlussstelle Krakow in falscher Richtung auf die Autobahn A 19 gefahren.
Die A 19. Mecklenburg. Mein Bruder Ivo war auf der A 19 gestorben, in einer Januarnacht vor zwölf Jahren. Mein Lieblingsbruder, ihr Lieblingssohn.
Der Polizist redete weiter. Aus meinen Haaren tropfte Wasser. Zu meinen Füßen huschten sandblasse Krabben über den Strand, die Teleskopaugen starr in den Himmel gerichtet. Geisterkrabben. Geisterfahrt. Meine Mutter, die sich seit Ivos Unfall immer geweigert hatte, in ein Auto zu steigen, nun plötzlich hinter dem Lenkrad
Weitere Kostenlose Bücher