Am Anfang war die Nacht Musik
Er spürt es.
Durchs Fenster sieht er die Köchin über den Hof gehen. Wahrscheinlich ist es später, als er dachte. Seine Uhr, wo ist seine Uhr. Er wird zu spät
kommen. Kaline. Wo ist Kaline. Die Köchin. Nein, diese Köchin nach der Uhr ist wie einen Raben nach einem Stück Käse zu fragen.
Der Kutscher wartet schon. Auf ihn. Draußen in der Kälte. Er wirft sich den weiten schwarzen Wollmantel über, schlingt ein dickes wollenes Tuch um den
Hals. Tupft einen weiteren Finger Rosenwasser, diesmal hinters Ohr, und schließt sorgfältig die Tür hinter sich ab. Der Hund begrüßt ihn, als hätte er
ihn seit Tagen nicht gesehen. Er folgt ihm hinaus. Im Hof geht er eigene Wege. Tappt Richtung Stall, Pfoten ins frische Weiß. Wie schwarze Noten auf
weißem Papier, denkt Mesmer. Eine Melodie fällt ihm ein. Im Hof dämpft der Schnee jedes Geräusch, außer Schneegeräuschen. Mesmers Schritte knirschen so
laut, dass er erschrocken stehen bleibt und zum Schlafzimmer seiner Frau hinaufschaut. Alles still oben. Glück gehabt. Glück und Stille, alte
Verwandte. Aber natürlich nimmt ihm das keiner, den es vorwärts drängt, ab. Die gehen doch davon aus, dass hinter allem das Unbegriffene steckt. Und das
muss auf den Begriff gebracht werden. Weiter auf Zehenspitzen zur Kutsche. Hinein in das prächtige Winterbild mit zwei Rappen vor einem Schlitten. Zwei
vollbeschirrte Pferde kauen und drehen die Köpfe und wenden sich wieder dem Hafer zu in den Säcken vor ihren Mäulern. Dem Bild fehlt ein Kutscher. Alle
sind sich selbst genug. Er nicht. Er könnte die Pferde umarmen, den Kopf an ihre warmen Hälse legen, überihre Kruppen
streichen. Pferde rauben keine Kraft. Umgekehrt. Sie geben Kraft. Aber die neue Patientin. Und ihr Vater, der Hofsekretär. Ein kaiserlich-königlicher
Hofsekretär kann weder mit einem unpünktlichen noch mit einem nach Pferd riechenden Arzt verkehren.
Beamte sind alle gleich. Je pünktlicher und parfümierter man ihnen entgegentritt, desto gnädiger wird man empfangen. Und was will man mehr, als gnädig
empfangen werden. Gnädiger als gnädig. Am allergnädigsten.
Die Hände in den Manteltaschen tritt er sachte auf der Stelle. Dabei macht seine Rechte, unerwartet, eine große Entdeckung: eine Uhr an einer
Kette. Und als er sie herauszieht: besteht keinerlei Grund mehr zur Eile. Und kaum kommt es nicht mehr drauf an, klappt alles wie am Schnürchen. Der
Kutscher hastet durch die Tür eines der Nebengebäude, lässt sie eilig ins Schloss fallen. Mesmer hält die Eile für gespielt. Sein sattes Gesicht verrät
doch, der Kutscher hat gerade in Ruhe gefrühstückt. Und jetzt nimmt er, ihn grüßend, den Pferden das ihre weg.
In die innere Stadt, sagt Mesmer. Am Roten Turm könne er ihn absetzen. Von dort aus gehe er zu Fuß zu diesem Haus mit dem langen Namen. Wie hieß es? Schab den …
Zum Schab den Rüssel , sagt der Kutscher und schnalzt, bis die Rappen in Gang kommen.
Normalerweise fängt die Donau die ersten Lichtstrahlen am Morgen und bewahrt am Abend die letzten. Heute aber macht der Schnee die Donau schwarz. Die
Donau ist eine Uhr. Sie lässt Zeit, Wetter und Jahreszeit ablesen. Er könnte sein Leben nach der Donau ausrichten. Überhaupt nach Flüssen,nach Wassern, nach an- und abschwellenden Fluten. Die den Bewegungen der Planeten folgen. Den Konstellationen von Sonne und Mond. Sie
bestimmen die Welt. Alles, woraus wir gemacht sind, das Feste, das Flüssige. Er hat die alten Schriften studiert, Galilei gelesen, Gassendi, Kepler,
Descartes. Und er hat die Natur studiert, ihre wilden Gesten. Die Ozeane, Ebbe und Flut. Die Winde – Stürme und Unwetter. Die Erde – Beben und
Vulkanausbrüche. Jungfer Ossines Krampfanfälle und Zuckungen und unzählige andere Bewegungen. Die seiner Frau zum Beispiel mit ihren Reizbarkeiten und
Wutausbrüchen. Und seine eigenen – Gott sei Dank eher seltenen – Nierenschmerzen. Und bald auch die Körpersprache der neuen Patientin: Ihre Blindheit
wird er studieren. Und dabei wird er die Augen verschließen vor dem Einstudierten. Vor der auswendig gespielten Rolle. Und wird die Sinne öffnen
gegenüber ihrer Verstocktheit.
Von denen, die er ernst nimmt, die wissenschaftlich denken und um exakte Messungen bemüht sind, wie er selbst, ahnten viele den Einfluss des Universums
auf die untermondische Welt. Aber erst Newton gelangte zu universellen Prinzipien. Klarer Kopf, klare Sprache, klare Gesetze. Seit Jahren beschäftigt
ihn Newtons System. Es entspricht mit
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