Am Ende Der Straße: Roman
hatte.
Zu Christy sprach die Dunkelheit mit der Stimme ihres Vaters. Er war zwei Jahre zuvor an einem Herzinfarkt gestorben. Insgeheim hatte ich immer vermutet, dass sein Tod einiges mit Christys Hang zu Drogen und Alkohol zu tun hatte. Ich meine, wir feierten beide gern, aber für sie hatte das Feiern einen anderen Stellenwert bekommen, nachdem ihr Vater gestorben war.
Russ hörte in der Dunkelheit die Stimme seiner Exfrau, was er ziemlich komisch fand, denn bis zu diesem Moment hatte er seit mehr als zwölf Jahren nichts mehr von ihr gehört. Er wusste nichts Aktuelles über sie, außer, dass sie nach North Carolina gezogen war und ohne ihn ein neues Leben angefangen hatte, doch jetzt kam es ihm vor, als würde sie sich in den Schatten verstecken und seinen Namen rufen.
Für mich klang die Dunkelheit wie mein Großvater. Ich hatte meinen Dad nie gekannt, und meine Mom
hatte zwei Jobs angenommen, um mich durchfüttern zu können, also war ich mehr oder weniger bei meinen Großeltern aufgewachsen. Mir machte das nichts aus. Sie waren beide wundervolle Menschen, und ich hatte sie sehr lieb. Meine Mom und ich wohnten bei ihnen. Ich schlief in Moms altem Zimmer und sie auf der Couch. Als ich noch klein war, war mein Großvater mein bester Freund. Wir bauten auf seiner Werkbank gemeinsam riesige, detailgetreue Modelleisenbahnlandschaften und statteten sie mit kleinen Häusern, Bäumen, künstlichem Gras und winzigen Autos aus. Als ich zwölf war, unternahm er mit mir einen Ausflug nach Norfolk, wo wir den Kriegsschiffen beim Auslaufen zusahen, und einmal fuhren wir übers Wochenende gemeinsam nach Colonial Williamsburg. Im Sommer fuhr er immer mit mir auf die kleinen Nebenstraßen. Wenn wir eine Stelle erreichten, an der kein Verkehr war, setzte ich mich auf seinen Schoß, und er ließ mich fahren. Ich hatte ihn geliebt und tat es noch. Ich dachte sehr oft an ihn. Er war gestorben, als ich fünfzehn war. Eines Tages kam er herein, nachdem er den Rasen gemäht hatte, trank ein Glas Wasser und brach mitten in der Küche zusammen. Herzinfarkt, wie Christys Vater. Ich weiß noch, wie unwirklich mir alles vorkam, während meine Großmutter und ich neben ihm hockten und auf den Notarzt warteten.
Wir hatten es mit Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung versucht, aber nichts hatte geholfen. Seine Lippen wurden schon blau, als der Rettungswagen in die Auffahrt einbog. Sie sagten, es sei sehr schnell gegangen
und dass niemand etwas hätte tun können, als sollte mich das irgendwie trösten.
Als ich älter wurde, konnte ich mich manchmal nicht mehr daran erinnern, wie seine Stimme geklungen hatte, aber als ich sie dort in der Dunkelheit hörte, gab es keinen Zweifel – das war er.
Aber er war es nicht. Auf irgendeiner unterschwelligen, instinktiven Ebene, die ich nicht ganz begriff, wusste ich das. Ich wusste, dass das Flüstern in der Dunkelheit nicht von meinem toten Großvater stammte. Diese Stimme klang genau wie seine, so sehr, dass sich mir das Herz zusammenzog. Es roch sogar nach ihm – nach Old Spice, Pfeifentabak mit Kirscharoma und seiner durchdringenden Mentholarthritissalbe. Diese Gerüche schlugen mir aus der Dunkelheit entgegen und wirkten eigenartig tröstend auf mich. Aber dann wurde mir bewusst, dass gar kein Wind ging, der sie mir entgegentreiben konnte. Die Luft war völlig still, fast schon erstickend. Wie konnte ich das also riechen? Wo war er?
Und noch während mir diese Fragen durch den Kopf gingen, erschien er mitten auf der Straße, auf der anderen Seite des Ortsschildes. Er sah nicht so aus wie bei seinem Tod, sondern jünger, der Großvater aus meinen liebsten Kindheitserinnerungen. Er war von einem fahlen Licht erfüllt, als würde ein Heiligenschein aus ihm herausfließen. Das Licht strahlte von ihm ab wie Hitzewellen auf einer Wüstenstraße, aber es war kein warmer Schein. Dieses Licht war kühl. Ich konnte zwar nichts spüren, aber so sah es eben aus. Kalt.
Falsch.
» Hallo, Robbie«, sagte er. »Komm und nimm deinen Grandpa in den Arm.«
Ich versuchte zu sprechen, aber mein Mund war völlig ausgetrocknet. Meine Zunge und meine Lippen fühlten sich an, als wären sie geschwollen. Die Gerüche wurden stärker.
» Komm schon«, drängte er. »Es ist so lange her. Du hast mir gefehlt.«
Er streckte die Arme genauso aus, wie er es immer getan hatte, und ich erinnerte mich daran, wie sicher ich mich gefühlt hatte, wenn er sie um mich geschlungen und mich gedrückt hatte. Jetzt fühlte ich
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