Am Ende der Wildnis
Handlungsstrang einer Geschichte sind schnell verloren. Selbst die Bäume, umwickelt von Moos und umhüllt von Farn, wirken verkleidet.
Der Anblick eines Küstenwalds kann Ehrfurcht gebietend sein: riesig, heilig und auf Ewiges verweisend, wie eine Notre Dame aus Zweigen, Ästen und Nadeln. Ein Fremder wird sich hier kaum wohlfühlen. Man kann nur zwanzig Schritte von einer Straße oder einem Strand entfernt und trotzdem völlig orientierungslos sein. Einmal im Wald, gibt es keine Zukunft und keine Vergangenheit, sondern nur das modrig-feuchte und dämmernde Jetzt. Unter den Füßen spürt man ein Gewirr aus Wurzeln und Zweigen, das darauf lauert, Beine zu brechen, und so ungefähr alle fünfzehn Meter versperrt eine moosbedeckte Wand umgestürzter Bäume den Weg, die höher sein kann als man selbst und Dutzende von Metern lang. Dieses Totholz ist der Nährboden diverser junger Bäume, die aus ihm herausgewachsen sind, fünfzig Jahre alt und ordentlich ausgerichtet wie Zaunpfähle. Hier im Inneren verwischen und vereinen sich die Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen der einen Art und der nächsten: Alles dient als Startrampe für etwas anderes, jeder und jedes möchte seinen Anteil am Himmel. Das Unterholz ist dicht, und zusammen mit den Bäumen nimmt es fast die Sicht. Das Geräusch rinnenden Wassers ist allgegenwärtig, und der Boden ist so weich und schwabbelig wie ein Sofa mit ausgeleierten Federn. Man hat das Gefühl, wenn man zu lange an einer Stelle stehen bliebe, werde man ganz einfach überwachsen und von dem trägen und uralten Wildwuchs verschlungen, der rundherum wütet. Er kann Erstickungsanfälle hervorrufen, und das Bedürfnis, die Sonne zu sehen, kann überwältigend werden – und wenn all die Bäume nicht wären, müsste das eigentlich ein Leichtes sein.
Von einem Satelliten aus betrachtet, wirken Nordamerikas gemäßigte Küstenregenwälder wie eine feine grüne Fransenkante, die den westlichen Rand des Kontinents ziert. Vor der Zeit der industriellen Holzfällerei reichte dieses schmale Band, selten mehr als achtzig Kilometer breit, so gut wie ohne Unterbrechung über eine Entfernung von mehr als dreitausend Kilometern von Kodiak Island in Alaska südlich durch British Columbia, Washington und Oregon bis nach Mendocino County in Kalifornien. Entlang der gesamten Länge dieser Wälder formt eine Gebirgskette ein natürliches Bollwerk zwischen dem Pazifischen Ozean und dem Rest des Kontinents, und hier werden die Stürme, die über den Nordpazifik anrollen, abrupt aufgehalten. Regenwolken, die wie schwebende Wasserblasen funktionieren, brechen, wenn sie auf die kühlere Luft der Küstengebirge prallen. Und das kann erstaunliche Wirkungen haben. So schüttete im Winter 1988 eine unerbittliche Parade von Tiefdrucksystemen nahe der Grenze zwischen Washington State und British Columbia achtundzwanzig Meter Schnee über dem Mount Baker aus (ein Weltrekord), in niederen Regionen regnete es ausreichend, um eine Arche schwimmen zu lassen.
Durch die milden Temperaturen innerhalb des langen feuchten Korridors zwischen Pacific Slope und dem Meer ist so etwas wie ein riesengroßes Terrarium entstanden. Es handelt sich um eine Umwelt, die perfekt gestaltet ist, Leben in großem Maßstab zu fördern, einschließlich der größten frei stehenden Geschöpfe der Erde. Sämtliche do minierenden Arten an der West Coast – Redwood, Sequoia, Sugar Pine, Western Hemlock, Douglas-Fichte, Balsam-Tanne, Black Cottonwood, Red Cedar und Sitka-Fichte sind Giganten ihrer Art. Zum großen Teil ist es diesen immensen Bäumen zu verdanken, dass die Wälder des Nordwes tens mehr lebendes Gewebe (am Gewicht gemessen) nähren als jedes andere Ökosystem, einschließlich des Äquatorialdschungels.
Die Hauptunterschiede zwischen tropischem und gemäßigtem Regenwald haben mit Temperatur und Lage zu tun. Während die tropischen Regenwälder – Dschungel – entlang des Äquators in den heißen Zentren ihrer Heimatkontinente zu finden sind, gedeihen die gemäßigten Regenwälder in den kühlen und nebligen Randzonen, näher an den Polen unseres Planeten. Diese Wälder bevorzugen ein stabiles Klima, das weder zu heiß noch zu kalt ist, und ihr idealer Standort ist eine westwärts gerichtete Küstenlinie mit Bergen im Rücken, die große Mengen von Schneeschmelze und Regen auffangen und kanalisieren. Diese Bedingungen sind auf beiden Hemisphären zu finden, wenngleich nur zwischen dem vierzigsten und dem sechzigstem Breitengrad.
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