Am Ende zählt nur das Leben
Sarah versuchte, das Wort Fahrradfahrer auszusprechen? Damals war sie keine zwei Jahre alt«, brauchte Anja nur zu sagen, und ich prustete los.
»Klar, Rarararer! Mama, guck mal, ein Rarararer .«
Bei solchen Erinnerungen muss meine Mutter weinen, und Anja und ich haben es uns fast gänzlich abgewöhnt, in ihrem Beisein über lustige Episoden zu sprechen. Dabei tut es mir gut, denn es bringt meine Kleine für einige Momente zurück zu mir. Dann spüre, rieche und höre ich sie. Ich war so stolz auf mein Mädchen und bin es immer noch. Sie war ein wunderbarer Mensch.
»Mama, es ist besser, wenn du darüber sprichst, was dich bewegt«, sage ich immer wieder zu ihr. »Vielleicht solltest du auch eine Therapie machen, um wieder glücklich werden zu können.«
»Du bist doch meine Therapie! Du bist so stark.«
»Mama, ich habe nicht immer die Kraft, dir zuzuhören. Du musst viel darüber sprechen, aber in einer professionellen Therapie. Mir hat es sehr geholfen. Probiere es doch wenigstens aus. Du kannst nicht dein Leben lang um unsere Sarah trauern. Du hast noch andere Enkel, die sich eine fröhliche Oma wünschen.«
»Ich habe Angst davor, zu einem Psychiater zu gehen! Ich bin doch nicht verrückt.«
»Aber so ist es nicht. Ich habe schließlich auch eine Therapie gemacht. Im Wartezimmer einer Therapeutin sitzen Menschen wie du und ich, die etwas verarbeiten müssen, das sie allein nicht bewältigen können. Allein hätte ich es nie geschafft, das Trauma zu überwinden und wieder Lebensfreude zu finden. Versuche es doch mal. Wenigstens eine einzige Stunde. Ich begleite dich. Probiere es bitte.«
»Ich weiß nicht. Du bist noch jung. Da ist es etwas ganz anderes. «
»Und du bist noch nicht alt. Es liegen noch viele Jahre vor dir und Papa. Du ziehst dich immer mehr zurück. Das ist nicht gut. Es wäre doch schön, wenn Papa und du wieder gemeinsam etwas unternehmen könntet und heiter wäret. Ihr könntet doch mal ans Meer fahren, ein Wochenende lang ausspannen. Ich habe es auch geschafft. Wenn man von Dingen spricht, die endgültig vorbei sind, lachen die Mäuse. Hast du uns das nicht immer gesagt?«
Unser Haus
Kaum ein Jahr später zogen Robert, Charlotte und ich in unser eigenes Haus. Nach aufwendigen Umbauarbeiten war es so, wie wir es haben wollten. Anja wohnte in der Nähe, und auch zu allen anderen Familienangehörigen war es nicht weit. Ich wollte unser Nest am liebsten sofort fertig haben und trieb mich und all unsere Helfer zur Eile an, weil ich den Schwebezustand zwischen der alten Wohnung, der Baustelle und dem anvisierten Umzugstermin kaum ertrug. Ich konnte meine innere Hast nur schwer erklären, aber ich hatte meine Alarmglocken, die laut schrillten, wenn ich etwas nicht ertrug. Leider waren sie nur für mich hörbar und den anderen kaum zu vermitteln. Manch einer war bestimmt von meiner Ungeduld irritiert.
Nachdem wir in unsere eigenen vier Wände gezogen waren, überwältigten mich in regelmäßigen Abständen Glücksmomente, die ich kaum fassen konnte und noch vor Kurzem als undenkbar betrachtet hätte. Ich war Ende zwanzig und freute mich auf eine Zukunft mit meinem Mann und meiner Tochter.
Inzwischen arbeitete ich stundenweise in einem 400 Euro-Job, um etwas zur Haushaltskasse beizusteuern. Manchmal half ich in einer Gärtnerei oder übernahm Schichten als Packerin. Meine Mutter oder meine Schwiegermutter kümmerten sich in dieser Zeit um Charlotte. Die finanzielle Belastung mit einem Haus und Kind war nicht einfach zu schultern, und ich freute mich, dass ich nach Charlottes Geburt nun in der Lage war, einige Stunden in der Woche zu arbeiten. Wir kamen gut über die Runden, und eines Tages würde ich vielleicht auch wieder in meinem alten Beruf als Arzthelferin arbeiten können. Doch zunächst war mir die Erziehung unserer Tochter am wichtigsten, und ich konnte mir nicht vorstellen, sie ganztags in einer Kinderkrippe abzugeben.
Im neuen Haus stellte ich mir manchmal vor, welches Zimmer Sarah bezogen hätte. Ich malte mir aus, wie wir es eingerichtet hätten und welche Farbe sie sich ausgesucht hätte. Diese Gedanken waren nicht länger quälend, sondern nur ein wenig traurig. Sie kamen und gingen wie andere Gedanken und gehörten zu meinem Leben wie meine gesamte Vergangenheit. Sarah wäre bestimmt eine tolle große Schwester für Charlotte gewesen. Wir wären zu viert! Eine zweijährige und eine siebenjährige Tochter. Welch eine schöne Vorstellung.
Unser Haus war kaum eingerichtet,
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