Am Ende zählt nur das Leben
auf Sylt, weil wir uns zehn Jahre zuvor auf der Insel kennengelernt hatten. Und so kam es, dass wir im eisigen Januarwind über den verlassenen Inselcampingplatz stapften und nach der Stelle suchten, an der unsere Zelte in jenem Sommer gestanden hatten. Trotz der Kälte amüsierten wir uns, fielen in den Sand und küssten uns. Zehn Jahre! In solchen Momenten wurde mir mehr denn je bewusst, unter welchem Druck unsere wiedergefundene Liebe zu Beginn gestanden hatte. Ich war in größter Trauer gewesen und gleichzeitig wieder in Robert verliebt. Doch für eine unbefangene Liebe hatte es keinen Raum gegeben. Wie hatte er das nur ausgehalten? Nun suchten wir gemeinsam nach diesem Raum für unsere Liebe und genossen jede Stunde der Normalität .
In den letzten Jahren hatten Robert und ich ein kleines Ritual in unsere Beziehung eingefügt: Robert spielte Fußball, und ich begleitete ihn zu jedem Punktspiel! Ob es regnete, schneite, stürmte oder die Sonne brannte: Ich stand immer am Spielfeld und feuerte ihn und seine Mannschaft an. Anfangs konnte ich kaum glauben, was ich auf dem Platz zu sehen bekam. Als Fußballer war Robert ein anderer Mensch. Ich staunte, als ich ihn zum ersten Mal wütend erlebte. Hier konnte er sogar lauthals schimpfen. Sein Brüllen hallte manchmal über das gesamte Spielfeld. Diese Wut bekam sogar der Schiedsrichter zu spüren. Wenn Robert sich oder seine Mannschaft ungerecht behandelt fühlte, dann hielt er sich nicht mehr im Zaum. Er tobte sich regelrecht aus, läuferisch und auch stimmlich. Es dauerte eine Weile, bis ich mich daran gewöhnte. Den Mitspielern war sein Verhalten vertraut. Sie empfanden es ganz offensichtlich als normal.
Aus meiner eigenen aktiven Zeit als Fußballspielerin waren mir die Abläufe und Regeln vertraut. Ich genoss manches gute Spiel und langweilte mich nicht, wenn es über anderthalb Stunden nur ein trostloses Hin-und-her-Kicken zu sehen gab. Durch meine regelmäßigen Platzbesuche lernte ich nicht nur seine Mitspieler, sondern auch zahlreiche Spielerfrauen, ihre Kinder und andere Angehörige kennen. Auf dem Fußballplatz spielte meine Vergangenheit keine Rolle. Niemand sprach mich darauf an. Ich genoss die Nachmittage am Spielfeldrand und war unendlich stolz, wenn Robert ein Tor schoss und seine Mannschaft als Sieger vom Platz ging.
Manchmal saßen wir noch im Vereinsheim zusammen oder warfen einen Grill an. Die kleinen Normalitätenbekamen einen hohen Stellenwert für mich. Dann beobachtete ich mich selbst und entdeckte die vielen Schritte, die ich in den letzten Jahren auf dem Weg zu einem (wieder) erfüllten Leben geschafft hatte.
Ich sah die Welt mit anderen Augen, voller Dankbarkeit und Wachsamkeit. Vielleicht bin ich nicht mehr so belastbar wie vor dem Tod meiner Tochter, aber ich habe gelernt, auf mich und hoffentlich auch auf andere zu achten. Ich versuche die Charaktere von Fremden einzuschätzen und bin auf der Hut, wenn mir etwas nicht gefällt oder sich jemand seltsam verhält. Für Gefühlsschwankungen bei vertrauten Menschen habe ich einen Sensor entwickelt und frage nach, wenn es mir notwendig erscheint.
Doch trotz aller Aufarbeitung der tragischen Ereignisse blieb manches unausgesprochen, und es gab auch in meiner Familie zahlreiche offene Fragen.
Erst kürzlich klärte Anja ihre Kinder über Sarahs wahre Todesursache auf. Meine Schwester und mein Schwager hatten bewusst damit gewartet, ihren Kindern die genauen Umstände zu schildern. Sie hatten sich dafür die Herbstferien ausgesucht, um in Ruhe und möglicherweise über mehrere Tage hinweg über alles sprechen zu können. Nele war inzwischen fünfzehn Jahre alt geworden und hatte immer an der Geschichte mit dem Autounfall gezweifelt. Nun sollten sie und ihr jüngerer Bruder erfahren, was wirklich geschehen war. Die beiden Kinder hörten ihren Eltern aufmerksam zu. Anja sagte ihnen auch, dass sie mich jederzeit darauf ansprechen dürften und ich ihnen jede Frage beantworten würde.
»Das habe ich mir gedacht. Ich hatte so ein komisches Gefühl«, sagte Nele einige Tage später zu mir. »Ich habe schon immer gewusst hat, dass da etwas faul ist.«
»Du bist ja auch ein cleveres Mädchen.«
»Ich kann mich gut an alles erinnern. Katja, du sollst nicht mehr traurig sein.«
»Das bin ich auch fast nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so wie am Anfang. Meistens denke ich an die fröhliche Zeit mit Sarah zurück.«
Mein Vater geht regelmäßig zum Friedhof und pflegt Sarahs Grab. Über diese
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