Altern Wie Ein Gentleman
Rückblick – eine Einleitung
»Es gibt kein Verbot für alte Weiber,
auf Bäume zu klettern.«
ASTRID LINDGREN
Warum und wozu über das Alter noch nachdenken und schreiben? Es wird schwerlich Neues oder Überraschendes zu entdecken sein, denn alt werden die Menschen von jeher und haben sich entweder illusionslos, wütend oder weise mit dem Altern und dem körperlichen Verfall, dem unerbittlichen Begleiter der Jahresringe, auseinandergesetzt. Der körperliche Verfall, nicht der Lebensabend, sind der Skandal des Alterns, das schließlich in jenem größten und letzten Rätsel, dem des Todes, aufgeht.
Über den Tod hat der italienische Philosoph Paolo Mantegazza Ende des 19. Jahrhunderts einmal bemerkt: »Es reicht, nicht dran zu denken.« Er kann sich mit dieser lapidaren Bemerkung auf Michel de Montaigne berufen, der lange vor ihm zu dem Ergebnis kam: »Der Notbehelf des gemeinen Volkes besteht darin, nicht an ihn zu denken.« So wollen wir es im weiteren Verlauf der folgenden Seiten – mit einer kurzen Ausnahme – auch halten.
Nach fast dreitausend Jahren des Nachdenkens über das Leben und dessen letzten Teil, das Alter, sind wir immer noch Dilettanten im Geschäft. Wir wissen, dass der Körper langsam entkräftet. Damit endet aber auch schon das gesicherte Wissen. Alle Reflexion hat nicht ausgereicht, um dem Alter ein einheitliches Gesicht zu geben. Es herrscht wie ehedem heilloses Durcheinander: von verzweifelter Verdammnis über die Vorstellung einer späten Ernte bis zur ergebenen Hinnahme. Auch der nüchterne Pragmatismus der Moderne hat keine Klarheit geschaffen. Es scheint, als ob die Menschheit, die wissenschaftliche Ergebnisse stets sorgfältig bewahrt und weiterentwickelt, beim Thema der Lebensführung kollektiv alles vergisst, was bereits gedacht wurde, und immer wieder von vorne beginnt.
»Auf den Schultern von Riesen schauen selbst Zwerge weit ins Land« – dieses schöne Bild aus der Renaissance gilt nicht für die Beschäftigung mit dem Leben. Vermutlich sind Vergesslichkeit und die Unfähigkeit, Klarheit über uns selbst zu gewinnen, die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt leben wollen.
In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war es still geworden um das Thema, wenn man von den Kampfschriften einer jugendbewegten Boheme in den zwanziger Jahren absieht, die indes das Alter auch nicht abzuschaffen vermochte. Im Gegenteil – nach einigen wilden Jahren ewiger Jugendlichkeit erinnerte sie die Natur unsanft an die Realität und befahl sie zurück ins Glied der alternden Zeitgenossen. Diese wiederum waren dankbar gewesen, wenn sie überhaupt alt geworden waren. Zwei Weltkriege hatten Chancen im Überfluss geboten, ein Leben vorzeitig zu beenden. Wer denen entkommen war, trug Trauer um früh Verstorbene, musste sich erst einmal um die Gegenwart kümmern und eine Welt wieder aufbauen, die man vorher erbarmungslos zerstört hatte.
Voreheliche Empfängnis war zwar auch damals keine Seltenheit, ihr folgte jedoch in aller Regel die Ehe als lebensverbindliche Verpflichtung. Eine vierzigjährige Frau musste nicht befürchten, ihres verhärmten Äußeren wegen verlassen zu werden. Sie konnte in der ruhigen Gewissheit, ihr Mann würde das Versprechen der lebenslangen Verbundenheit einhalten, alt werden. Somit blieb wenig Anlass für die Probleme einer alternden Haut wie Falten, Flecken, Tränensäcke. Im Gegenteil: Die jüngst in Mode gekommenen Reparaturarbeiten am eigenen Körper und die endlosen Debatten um das letztlich vergebliche Bemühen, dem Alter zu entkommen, wären den Bewohnern der fünfziger Jahre vermutlich sinnlos und frivol vorgekommen.
Als jemand, der im ersten Teil seiner beruflichen Karriere sozialwissenschaftlicher Assistent an einer deutschen Universität gewesen war, interessierte mich zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Thema Alter weniger die Realität als vielmehr das, was über sie gedacht und veröffentlicht worden war. Umgehend machte ich zwei grausige Entdeckungen.
Die neuerliche Beschäftigung mit dem verdrießlichen Sujet begann am 3. April 1957, als das Endspiel von Samuel Beckett auf die Bühnen kam. Der unwirtliche Einakter spielt in einem Kellerverlies, in dem vier Personen leben. Ob es vorstellbar sei, fragt Clov seinen Gefährten Hamm, dass die Natur den Menschen vergessen habe und alles für immer unveränderlich bleibe? Hamm muntert ihn auf: »Wir atmen doch, wir verändern uns! Wir verlieren unsere Haare, unsere Zähne! Unsere Frische!
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