Am Grund des Sees
Rache … aber konnte ich denn etwas tun? Ich war ja noch ein Kind.
Das Haus am Grund des Sees.
Während Francesca in Bellinzona den Bahnsteig auf und ab ging, kehrten ihre Gedanken zu Elias versenkter Kindheit zurück. Dass er nie ein Wort darüber verloren hatte. Dieser Mann hatte immer die gleiche undurchsichtige Miene, es war ein Elend. Sein Gesichtsausdruck änderte sich nie, egal, ob er seine französischen Chansons hörte oder von einem Fall erzählte oder, ja, ob er sie küsste. Immer das gleiche Gesicht.
Oft hatte Francesca ihn zu animieren versucht, sich auch einmal gehen zu lassen, aber ohne Erfolg: Zwischen Contini und der Welt stand eine unsichtbare Mauer. Er redete nie über sich, und er steckte voller Geheimnisse: zum Beispiel diese Briefe, die er an wer weiß wen schrieb und auf die er anscheinend nie eine Antwort erhielt. Vielleicht hatten sie beide wirklich nicht viel gemeinsam … Sie war etliche Jahre jünger als er, liebte soziale Kontakte, interessierte sich für Politik und Kunst, las mit Begeisterung. Er hingegen nahm nie ein Buch in die Hand, scherte sich einen Teufel um Politik und Kunst, kroch aber Stunden um Stunden durch die Wälder hinter Corvesco, wo er seinen Füchsen auflauerte.
Nein, vielleicht war das ungerecht. Neugierig war Elia schon, und wenn sie mit einem Vorschlag auf ihn zukam - einer Idee, einem Buch, einem Treffen -, ließ er sich immer darauf ein. Und jetzt? Hätte er wenigstens mal angedeutet, was er sich wünschte, wovor er Angst hatte. Aber nichts - er sah sie mit steinerner Miene an und erwartete, dass sie ohne irgendeinen Anhaltspunkt aus der Situation schlau würde. Es war, als müsste sie die Gedanken einer Statue erraten.
Francesca war so tief in Gedanken, dass sie den Mann mit der Windjacke glatt übersah. Erst kurz vor dem Zusammenstoß schreckte sie auf und versuchte noch auszuweichen, aber zu spät - sie verlor das Gleichgewicht und fiel ihm direkt in die Arme. Der Mann hielt sie fest und half ihr wieder auf die Beine. Er hatte eine Mütze auf dem Kopf, deren Schirm seine Augen verbarg, doch er wirkte belustigt.
»Obacht!«, sagte er überflüssigerweise.
»Entschuldigung, ich hab nicht aufgepasst, wo ich hintrete …«
»Das hab ich gemerkt! Haben Sie Ärger?«
»Nein … war nur in Gedanken.« Der Mann lächelte und nahm die Mütze ab. Er hatte blonde Haare und braune Augen. Francesca bemerkte seine Augenringe und stellte sich vor, dass er sich schon seit einer Ewigkeit auf einer strapaziösen Reise befand.
»Fahren Sie auch nach Mailand?«, fragte sie.
»Nur bis Lugano. Aber ich hab mich gar nicht vorgestellt.« Er schüttelte ihr die Hand und lächelte wieder. »Tommaso Porta. Und Sie?«
»Francesca.«
»Angenehm. Sagen wir du zueinander? Ich bin Tommi.«
3
Chico und das Abenteuer
Federico Malfanti, genannt Chico, liebte das Abenteuer. Er kannte es nur vom Hörensagen, ahnte indes, dass hier die große Lücke seines Lebens klaffte. Bis er an einem kalten Januarabend, hinter dem Steuer seines ramponierten Peugeot 206 sitzend, eine erste, flüchtige Bekanntschaft mit dem Abenteuer machte. Und es gefiel ihm gar nicht.
Jeden Morgen fuhr er von seinem Elternhaus in Biasca zur Kanzlei Calgari & Partner in Bellinzona. Abends schleppte er sich entkräftet ins Fitnessstudio und anschließend nach Hause zum Essen. Er hätte sich gern eine Mietwohnung in der Stadt gesucht, aber damit wollte er noch warten, bis er genug verdiente, um sich was wirklich Schickes leisten zu können.
Auf der Autobahn dauerte die Fahrt nur eine Viertelstunde, an diesem Abend aber nahm Chico die Kantonstraße, denn er wollte über Lodrino fahren und Tommaso Porta die Stellungnahme von RA Calgari zu den Erfolgsaussichten der Beschwerde vorbeibringen. Vor zwanzig Jahren hatte Calgari eine Gruppe von Ausbaugegnern vertreten. Damals war er gescheitert; vielleicht wollte ihm Porta eine zweite Chance ermöglichen? Calgari riet ihm jedoch von seinem Vorhaben ab.
Vielleicht aber ließ sich Tommaso Porta von seinem Vorhaben nicht abraten.
Es war fast sieben, und Chico kam zügig voran: Die Welle des Sechs-Uhr-Verkehrs war bereits abgeebbt. Nach Gnosca legte er eine CD mit den alten Hits der Gruppe 883 ein. Solche Musik erlaubte er sich nur, wenn er ohne Zeugen im Auto saß - nicht dass ihn etwa jemand für spätpubertär hielt.
Dieser Abschnitt der Talsohle zwischen Bellinzona und Biasca ist ein modernes Niemandsland. Die Dörfer hier überlegen, sich zu zwei Großgemeinden
Weitere Kostenlose Bücher