Am Grund des Sees
es nicht fertig.«
Der Zug fuhr in den Bahnhof von Lugano ein. Tommi stand auf.
»Ich muss aussteigen. War nett, mit dir zu plaudern.«
»Fand ich auch. Und ich bin sicher, dass du’s schaffst.«
Tommi sah sie fragend an.
»Diese wichtige Sache. Irgendwann schaffst du’s bestimmt.«
»Ah! Klar.« Tommi lächelte. »Du hast Recht, Francesca, danke. Ja, ich werd meinen Mut zusammennehmen und tun, was zu tun ist!«
Giovanni Pellanda war seit zwanzig Jahren Bürgermeister von Malvaglia. Weil schon sein Vater vor ihm Bürgermeister gewesen war, redeten böse Zungen bereits von einer Dynastie. In Wirklichkeit hatten die zweitausend-und-noch-ein-paar Einwohner der Gemeinde wenig Grund zur Klage. Pellanda hatte ein Leben lang als Arzt gearbeitet und dabei noch die Zeit gefunden, im Großen Rat sowie im Verwaltungsrat der Elektrizitätsgesellschaft zu sitzen und überdies die Leute kennenzulernen, die für das Wohl seines Dorfes wichtig waren. Vor allem gelang es ihm, mit den Marotten und Launen seiner Mitbürger, die bekanntermaßen mit einem eher lebhaften Charakter gesegnet waren, so gut umzugehen, wie es eben möglich war. Der Bürgermeister und seine sechs Gemeinderäte lagen miteinander häufig in glühender Fehde, aber dank seinem glücklichen Naturell gelang Pellanda am Ende meist eine versöhnende Geste - er gab seinem Gegner Recht und schlug mit jovialem Lächeln vor: »Komm, geh mit mir einen heben, ich lad dich ein …«
Giovanni Pellanda wohnte im oberen Ortsteil von Malvaglia, in einem Haus, das sich in den Untergrund krallte und so gebaut war, dass es jeden Sonnenstrahl einfing. Davor standen drei, vier Reihen Rebstöcke, und auf der Rückseite floss ein Bach vorbei, den der Bürgermeister nachts an seinem Fenster vorbeirauschen hörte und als Freund empfand: Er lullte ihn in den Schlaf.
An diesem Morgen war noch Zeit für einen kurzen Spaziergang mit seinem Hund, während er auf Elia Contini wartete. Er schlug den gewohnten Waldweg ein und ging bis zur Kapelle der hl. Agathe und zur Brücke über den Bach, von dort aus folgte er der alten Straße am Fluss. Nach einer guten halben Stunde erreichte er den verfallenen Bauernhof, wo er eine Zigarette rauchte; danach ging er auf einem Ziegenpfad, der irgendwann mitten durch den Bach führte, nach Hause zurück.
»Black!«, schrie der Bürgermeister. »Komm sofort her!«
Der Schäferhund, der am Ufer des Bachs stand, drehte mit hoffnungsvoller Miene den Kopf zu ihm her und wedelte.
»Du spinnst!«, sagte der Bürgermeister. »Du wirst doch bei dieser Kälte nicht ins Wasser gehen … los, komm her! Black!«
Aber Black dachte nicht daran, er spürte genau, dass sein Herr nicht bei der Sache war. Pellanda dachte über Contini nach: Seit Jahren hatte er ihn nicht gesehen, und er fragte sich, ob Contini bei ihm als ehemaliger Bewohner der Gemeinde oder in seiner Eigenschaft als Privatdetektiv um einen Termin ersucht hatte. Zum Glück hatte er das Treffen in die Morgenstunden gelegt, so dass er für den Rest des Sonntags seine Ruhe hatte.
Während der letzten Züge von seiner Zigarette blickte der Bürgermeister aufs Dorf hinunter. Die Luft war klar und kalt, die Sicht ausgezeichnet. Wie er da mit seinen Bartstoppeln, seinem mächtigen Zinken und seiner Lederjacke auf der Kuppe des Hügels stand, ähnelte Pellanda mehr einem Wilderer als einem Bürgermeister. Einem Wilderer, der im Wind Witterung aufnimmt.
»Guten Morgen, Bürgermeister! … Na, wie geht’s?«
Ein Lächeln auf den Lippen, drehte Pellanda sich um und erblickte Tommi Porta in einer roten Windjacke.
»Ah, ciao!«
»Guter Hund!« Black war sofort herbeigesprungen und hatte sich auf die Hinterbeine aufgerichtet, reichte Tommi seine Vorderpfoten und ließ sich von ihm den Bauch tätscheln. »Bist du jetzt auch schon unter die Morgenspaziergänger gegangen?«, sagte Tommi lächelnd zum Bürgermeister.
»Na klar, immer. Aber heute habe ich einen Termin … weißt du, wer kommt? Elia Contini.«
»Contini?«
»Erinnerst du dich an ihn? Er wohnte neben …«
»Natürlich erinnere ich mich. Sein Vater war doch der Typ, der verschwunden ist. Was will er von dir?«
»Keine Ahnung.« Der Bürgermeister zuckte die Schultern. »Vielleicht geht’s um den Staudamm. Hoffentlich ist er jetzt nicht auch noch dagegen! Und übrigens, Tommi, wenn du bitteschön auf einen Älteren hören würdest …«
»Um Gottes willen!«, lachte Tommi. »Fang bloß nicht wieder mit deinen Predigten an! Schau,
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