Am Hang
die letzte Verlautbarung nicht sehr viel schroffer klingen? Ich fände es jedenfalls statthaft, wenn Kleist geschrieben hätte: Die Wahrheit ist, daß sich auf dieser Erde nur Lumpen heimisch fühlen. Nur wäre das erstens ein Selbstlob gewesen und zweitens eine Kränkung der zufrieden Lebenden, die seiner doch freundlich gedenken sollten, nicht wahr. Was mich angeht, ich zaudere, wie gesagt, und bis ich so weit wäre, mich selbst so auszulöschen, wie es mir vorschweben würde, nämlich gelassen und fast so nebenbei, wie man am Wegrand einen Halm ausrupft – bis dann wird die Natur das Nötige vermutlich ohnehin veranlaßt haben. Es kommt noch etwas hinzu. So verlockend das Ende auch sein mag, so unverantwortlich wäre es, meine geliebte Frau allein zu lassen, sie ungeschützt dem Schrecken preiszugeben.
Loos schneuzte sich erneut, ich sagte: Jetzt müssen Sie mir helfen: Ist Ihre Frau denn nicht gestorben? – Er schwieg und schaute mich mit Augen an, die fiebrig wirkten. – Gestorben wohl, sagte er dann, aber gleichsam nicht richtig begraben, und wenn ich von Alleinlassen rede, so meine ich das in einem kaum verständlichen Sinn, ich habe sagen wollen: Wer liebt sie, wenn ich nicht mehr bin, wer erinnert sich ihrer dann noch, wer ehrt und schützt ihr Andenken in einer gedächtnislosen Zeit? Verstehen Sie jetzt? Nur wenn ich lebe, ist sie aufgehoben. – Er will sie übers Grab hinaus behüten, dachte ich und sagte: Ja, ich verstehe, nur finde ich es seltsam, daß Sie Ihr Leben gewissermaßen als Dienst an einem Menschen definieren, den Sie verloren haben. Es kommt mir vor, als sei für Sie das bloße Akzeptieren des Verlusts schon eine Treulosigkeit. Das muß Sie doch lähmen, das bedeutet doch Stillstand, Sie haben ein Recht auf Ihr eigenes Leben mit allem, was dazugehört. – Loos hörte nicht zu, saß abgewandt, den Blick auf die dunklen Anhöhen jenseits des Tals gerichtet. Frische Himbeeren! sagte er laut in die Nacht hinaus, dann schwieg er wieder. Sollte es doch noch irdische Genüsse für ihn geben? Ich fragte, ob er Lust auf Himbeeren habe und ob ich, falls vorhanden, welche bestellen solle. – Dort drüben, dort oben, fast alle Fenster sind jetzt erleuchtet, im Speisesaal des Kurhotels in Cademario hat man die Henkersmahlzeit eingenommen, und meine Frau hat auf dem Menüplan gesehen, daß es zum Dessert Himbeeren gab, und da wir etwas spät dran waren, ist sie in großer Angst gewesen, daß die Himbeeren ausgehen könnten, bevor wir mit der Hauptspeise fertig sein würden. Und obwohl ich gespürt habe, daß dies ein Unglück für sie wäre und daß sie von mir erwartete, es abzuwenden, hielt ich das Problem nicht für lösbar. Da hat sie mir vorgeführt, wie unnütz ich war. Die frischen Himbeeren, hat sie zum Kellner gesagt, wünsche sie sofort serviert, als Vorspeise sozusagen. So praktisch ist sie gewesen, so gern hat sie gelebt und Himbeeren gegessen. – Und warum Henkersmahlzeit? fragte ich. – Weil es die letzte war, Sie glauben nicht, wie ich sie manchmal dafür hasse, daß sie mir einfach erlosch, nach zwölf Jahren Ehe, Liebesjahren alles in allem, löst sie sich auf, stiehlt sich davon, macht mich zum Hinterbliebenen auf diesem grausigen Planeten, und dabei war sie auf dem besten Weg zu genesen, der Tumor war ja herausoperiert, Metastasen hatte sie keine, und unter dem Kopftuch wuchs das blonde Haar, das wegen des Eingriffs hatte entfernt werden müssen, mit großer Schnelligkeit nach. – Was ist geschehen? fragte ich zögernd. – Im Augenblick kann ich nicht sprechen darüber. – Nach einer Pause sagte ich, als könnte ihn das interessieren, daß die Freundin, mit der ich hier einmal gegessen hätte, auch Gast in Cademario gewesen sei. – Ich kann nicht sprechen darüber, wiederholte Loos, ich habe ohnehin zuviel geredet, weiß Gott warum ich einen fremden Menschen mit meinen Innendingen malträtiere, bestellen wir noch einen letzten Halben? – Sie malträtieren mich nicht, nur, wenn ich jetzt noch weitertrinke, wie komm ich dann die Kurven hoch nach Agra? – Zu Fuß, das macht Sie nüchtern und lüftet den Kopf, und morgen sitzen Sie frisch am Tisch und schreiben – worüber, worüber, es ist mir entfallen.
Es sei auch nicht wichtig, sagte ich, und ich sagte es nicht etwa darum, weil ich ihm seine zeitweilige Abwesenheit verübelt hätte, sondern weil ich meinem Vorhaben auf einmal fast keine Bedeutung mehr beimaß. Da Loos auf einer Antwort bestand, erklärte ich nochmals, es
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