Am Hang
gehe um Fragen des Scheidungsrechts beziehungsweise um die Aus- und Umgestaltung der diese Materie betreffenden Gesetze in einzelnen Kantonen, und zwar von der Helvetik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Er wisse vielleicht, daß das einheitliche, bundesweit gültige Zivilgesetzbuch noch relativ jung sei, es sei, um genau zu sein, erst seit dem 1. Januar 1912 in Kraft. Bis dahin hätten die meisten Kantone ihre eigenen privatrechtlichen Gesetzbücher gehabt, und deren einschlägige Paragraphen seien das Thema meiner Arbeit. – So ein Zufall, sagte Loos, das ist auch das Geburtsdatum meines Vaters, aber glauben Sie, daß Sie das schaffen über Pfingsten? – Beschwören könne ich es nicht, aber erstens falle mir das Schreiben leicht, nicht zuletzt wegen meiner zweijährigen Tätigkeit als Gerichtsschreiber, zweitens sei mir zum Glück ein ausgezeichnetes Gedächtnis eigen, und drittens sei das gesamte Material beisammen. – Sie haben eine halbe Bibliothek mit ins Tessin geschleppt? fragte Loos. Wo denken Sie hin, nur eine einzige Diskette, sagte ich lächelnd. – Ach so, natürlich, sagte er, verzeihen Sie, ich denke manchmal noch in alten und grobsinnlichen Kategorien, vor allem seit kurzem wieder verstärkt, seit ich in Zwietracht lebe mit Windows 2000. – Ich schwieg verunsichert. Loos füllte die Gläser. Er sagte, er brauche meinen Sachverstand und meinen Rat. – Worum es denn gehe, fragte ich. Es gehe um die Frage, wie er Windows 2000 wieder loswerden und mit Windows 98 weiterarbeiten könne. Es habe sich nämlich gezeigt, daß er nach der Installation von Windows 2000 seinen Trackball nur noch als PS-2-Maus mit zwei Tasten habe laufen lassen können. Und dazu komme der leidige Umstand, daß der PageScan nicht mehr scannen und das Bandlaufwerk nicht mehr sichern möge. Auch der Wizard-Maker verweigere sich, kurz, die ganze Konfiguration, die unter Windows 98 einwandfrei funktioniert habe, sei quasi im Eimer. – Ich starrte Loos an. Momente lang sah ich ihn doppelt, und zwar, aufgrund eines Schattenspiels, mit einem gewaltigen Schnurrbart, es sah so aus, als säße ein schwarzer Vogel mit ausgebreiteten Flügeln auf jedem seiner zwei Münder. Ich sagte schließlich, daß ich passen müsse und keine Ahnung hätte. – Macht nichts, sagte Loos, ich kenne die Lösung. – Sie wollten mich also testen beziehungsweise blamieren, sagte ich. Mitnichten, Herr Clarin, nur etwas glänzen wollte ich, nur etwas Eindruck schinden, vor allem aber schnell kundtun, daß man kein digitaler Depp sein muß, kein gestriger Geist, um die totale Elektronisierung und Informatisierung manchmal zum Teufel zu wünschen. Wissen Sie, was ich mir dann und wann ausmale, wenn ich auf meinem Sofa liege? Die Welt nach dem planetarischen Stromausfall! Und alle Aggregate am Ende, die Akkus leer, die Batterien ausgelaufen – das globale Gerassel verstummt. Stillstand und aschgraue Monitore. Belämmerte Menschen, getrennt von den Geräten, mit denen sie verwachsen waren, herausgerissen aus ihrer viereckigen Schattenwelt und geblendet vom Glanz der anderen. Hören Sie überhaupt zu?
Tatsächlich war ich, während Loos immer wacher zu werden schien, fast eingenickt und hatte seine Stimme wie aus der Ferne gehört. Doch, ja, sagte ich und unterdrückte ein Gähnen, Sie haben mir weismachen wollen, Sie seien nicht rückwärtsgewandt, dann aber ein Szenario gezeichnet, das Sie Lügen straft. – Das stimmt, sagte Loos, das ist das Dilemma der heutigen Sofaträumer: gehen sie vom Bestehenden aus, ohne es anzutasten, starten sie also auf der Rampe des Status quo und phantasieren sie sich vorwärts Richtung Zukunft, um dort etwas Lieberes zur Erscheinung zu bringen, dann scheitern sie. Denn in der Zukunft wird das heute Faktische, das sie ja mitträumen müssen, noch dreimal faktischer sein. Da bringt man kein Luftschloß mehr unter. Zukunftsträume, mit anderen Worten, können nur Alpträume sein, zumindest für jene, denen schon vor der Gegenwart graut. Und wenn man sich diese wegträumt, indem man der Menschheit vom Sofa aus eine partielle Sintflut verordnet, dann landet man naturgemäß im Gestern. Den Vorwurf der Rückwärtserei muß man schlucken. Wer alles gern langsamer hätte, stiller, sinnlicher, weniger grell, hat keine andere Wahl, als sich ins Einst hineinzuphantasieren, denn wie erwähnt, das Künftige wird so gewaltsam wirklich sein, daß sich kein Träumchen mehr nach vorne wagt, verstehen Sie?
Ja, ich verstehe, sagte ich, was
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