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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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den folgenden fünf Jahren kam es zu keinem Rückfall, so, von mir aus kann man weitermarschieren.
    Etwas würde mich noch interessieren, sagte ich, nämlich die Sache mit Hesses Regenschirm. Was hat Ihre Frau so beeindruckt an ihm? – Das habe er sich auch gefragt, sagte Loos, zumal dieser Schirm nun wirklich ein simpler schwarzer Herrenschirm gewesen sei so wie sein eigener und so wie Millionen andere. Und nicht nur sich selbst habe er gefragt, sondern später im Hotelzimmer – sie hätten im Bellevue übernachtet – auch seine Frau. Auch er, ihr Ehemann, habe er zu ihr gesagt, besitze einen Regenschirm, aber offenbar sei sein Regenschirm für sie der Inbegriff des Unbedeutenden, während sie vor Hesses Regenschirm fast wie vor einem Heiligtum gestanden habe. Ob sie ihm nicht erklären wolle, was sie an diesem Regenschirm verzücke. Sie habe ihn angelächelt und ihn ans Freud-Museum in Wien erinnert, das sie einmal zusammen besucht hätten und in dem eine angerauchte Zigarre von Sigmund Freud ausgestellt sei, die er, Loos, im Unterschied zu ihr geradezu andächtig betrachtet habe. Er habe seiner Frau recht geben müssen, denn diese Zigarre habe ihn tatsächlich intensiv berührt. Und damit sei das Thema erledigt gewesen. Im Bett habe ihm seine Frau dann noch ein Gedicht vorgelesen, das, auf ein DIN-A4-Blatt gedruckt, im Hesse-Museum aufgelegen habe und von dem sie sehr angetan gewesen sei. Zwei Zeilen daraus habe sie ihm dreimal vorgelesen, weshalb er sie auswendig könne:
     
    Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
    Bereit zum Abschied sein und Neubeginne.
     
    Als sie ihn gefragt habe, ob das nicht schön sei, habe er taktloserweise nur schläfrig gegrunzt, worauf sie das Licht gelöscht habe.
    Es überraschte mich angenehm, daß Loos nicht nur räsonieren und debattieren, sondern auf einmal auch erzählen konnte. Und da er vorher so wenig von seinem Leben preisgegeben hatte, ergriff ich jetzt die Gelegenheit und fragte ihn, ob ihm die Schule Spaß mache, ob er gern unterrichte. – Im Klassenzimmer stehe er gern, sagte er, unmittelbar außerhalb aber walte der Ungeist, denn im Verlauf der vergangenen Jahre sei die Schule fast überall in die Klauen von Funktionären geraten, von pädagogischen Analphabeten, jetzt aber, auf diesem Fußmarsch durch die stille Nacht, verbiete sich jedes weitere Wort über das Trauerspiel Schule.
    Wir redeten nichts mehr, bis wir die kurvenreiche Steigung hinter uns hatten und das Plateau der Collina dbro erreichten. Die Sterne waren weg, ein Wind kam auf. Was denken Sie? fragte Loos. – Ach, sagte ich, ich habe mich eben zu erinnern versucht, wann genau ich mit der Freundin, von der ich Ihnen erzählte, Schluß gemacht habe. – Ja, sagte er, es dürfte für Sie kein leichtes sein, die Übersicht zu behalten. Ist es so wichtig? – Überhaupt nicht, es ist mir nur plötzlich eingefallen, daß diese Freundin, die ja auch Kurgast in Cademario war, Ihrer Frau begegnet sein könnte, falls sich die beiden zur gleichen Zeit dort aufgehalten hätten. – Meine Frau war nur fünf Tage lang dort, bis zum elften Juni vergangenen Jahres, falls Ihnen das weiterhilft. – Das heißt, bis übermorgen vor einem Jahr? – Ja, sagte er leise, am Pfingstsonntag jährt sich das Unglück. – Ich traute mich nicht, ihn nochmals nach den Umständen ihres Todes zu fragen, und sagte mir jetzt auch, daß ich durch Valerie, die für drei Wochen in Cademario weilte, von diesem Todesfall gehört haben würde, wenn er sich zur Zeit ihres Dortseins ereignet hätte, erst recht natürlich, wenn Valerie bekannt gewesen wäre mit Loos’ Frau.
    Kurz vor Bigogno fielen erste Tropfen, ein Blitz erhellte das schlafende Dorf, die Grillen verstummten, und nach dem Donner riet ich Loos zur sofortigen Umkehr. Es sei nicht gut, etwas Angefangenes abzubrechen, sagte er, und zudem seien zwischen Blitz und Donner gut sechs Sekunden vergangen. Dividiere man diese Zahl durch drei, so wisse man, wie weit das Gewitter entfernt sei – ganze zwei Kilometer in unserem Fall. Er kehre also nicht um, hingegen wäre er froh, wenn er schnell austreten dürfte. Das sei seit längerem auch mein Bedürfnis, sagte ich. Wir stellten uns an den Straßenrand, einen Abstand von zirka zwei Metern wahrend. Ich erzählte, daß ich kürzlich einen scheidungswilligen Mann in meiner Praxis gehabt hätte, der von seiner Frau dazu dressiert worden sei, auf dem WC nur sitzend zu schiffen, zwecks Vermeidung von Spritzern, und jetzt, nach

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