Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
Zugeständnisse, die ihm erlaubten, über das hinauszugehen, was er bereits sehen oder berühren durfte, wurden nur nach und nach erzielt. Der Tag im Oktober, an dem er zum ersten Mal ihre nackten Brüste sah, lag lang vor jenem Tag, an dem er sie berühren durfte - der neunzehnte Dezember. Er küßte sie im Februar, allerdings nicht die Brustwarzen, die er erst im Mai kurz mit den Lippen streifte. Sie selbst ließ sich die Zeit, auf seinem Körper noch langsamer vorzurücken. Ein plötzliches Vorpreschen seinerseits konnte Monate eifriger Bemühungen zunichte machen. Der Abend im Kino, als Bitterer Honig lief und er ihre Hand nahm, um sie zwischen seine Beine zu legen, warf ihn um Wochen zurück. Sie reagierte nicht eisig, auch nicht kühl, wirkte aber irgendwie reserviert, fast enttäuscht und fühlte sich womöglich gar ein wenig betrogen. Kaum merklich zog sie sich von ihm zurück, ohne ihn je an ihrer Liebe zweifeln zu lassen. Dann aber befanden sie sich endlich wieder auf Kurs: Als sie an einem Samstag nachmittag Ende März allein waren und der Regen heftig an die Scheiben des unaufgeräumten Wohnzimmers im winzigen Haus von Edwards Eltern in den Chiltern Hills prasselte, ließ sie ihre Hand kurz auf - oder doch neben - seinem Penis ruhen. Mit wachsender
    Hoffnung und zunehmender Ekstase spürte er sie kaum fünfzehn Sekunden lang durch zwei Lagen Stoff hindurch. Und sobald Florence die Hand wieder fortnahm, wußte er, daß er nicht länger warten konnte. Er bat Florence, ihn zu heiraten.
    Er ahnte nicht, welche Überwindung es Florence kostete, ihre Hand - vielmehr ihren Handrücken -dorthin zu legen. Sie liebte ihn, sie wollte ihm eine Freude bereiten, mußte dafür aber großen Ekel überwinden. Ihr Versuch war aufrichtig gemeint, denn trotz aller Klugheit war ihr Arglist völlig fremd. Sie ließ die Hand so lang liegen, wie sie konnte, spürte aber bald, daß sich unter dem grauen Flanell seiner Hose etwas regte, versteifte. Es war wie ein lebendes Ding, etwas, das ihr ganz unabhängig von ihrem Edward zu sein schien - und sie schreckte zurück. Dann platzte er mit seinem Antrag heraus, und im Ansturm der Gefühle, vor lauter Glück, Übermut und Erleichterung, vergaß sie in all den plötzlichen Umarmungen ihren kleinen Schock. Er selbst aber war über seine Entschlossenheit so erstaunt, sein Denken von unbefriedigtem Verlangen so gelähmt, daß er nicht einmal ahnte, mit welchem Widerspruch sie von diesem Tag an kämpfte, in welchem Widerstreit sie lag zwischen Ekel und uneingestandenem Verlangen.
    Sie waren also allein und konnten theoretisch tun, was immer sie wollten, doch blieben sie weiter vor ihrem Abendessen sitzen, auf das sie keinen Appetit hatten. Florence legte das Messer beiseite und griff nach Edwards Hand. Von unten dröhnte der Rundfunkempfänger herauf, und sie hörten das Glockengeläut von Big Ben, dann den Beginn der Zehn-Uhr-Nachrichten. Wegen der landeinwärts gelegenen Hügel war der Empfang an der Küste nicht besonders gut. Die älteren Gäste saßen jetzt sicher unten im Aufenthaltsraum und genehmigten sich zum Bericht über das Weltgeschehen einen Schlummertrunk - das Hotel bot eine reiche Auswahl guter Malzwhiskys an -, während einige Männer sich die letzte Pfeife des Tages stopften. Die Angewohnheit, sich zu den Abendnachrichten um den Radioapparat zu versammeln, stammte noch aus dem Krieg, doch würden sie diese Gepflogenheit wohl niemals mehr aufgeben. Edward und Florence konnten gedämpft die Themen des Tages hören, den Namen des Premierministers und ein, zwei Minuten später seine vertraute Stimme, die lautstark zu einer Rede ansetzte. Harold Macmillan hatte sich auf einer Konferenz in Washington gegen den Rüstungswettlauf und für ein Teststopabkommen eingesetzt. Wer fände es nicht irrsinnig, immer weitere Wasserstoffbomben in der Atmosphäre zu zünden und den ganzen Planeten zu verstrahlen? Dennoch glaubte niemand unter dreißig - Edward und Florence ganz bestimmt nicht -, daß ein britischer Premierminister im Weltgeschehen noch viel zu sagen hatte. Jährlich schrumpfte das Empire stärker zusammen, wurden weitere Länder in die ihnen zustehende Unabhängigkeit entlassen. Mittlerweile war vom einstigen Imperium kaum mehr etwas übrig; die Welt gehörte den Amerikanern und Russen. Großbritannien - beziehungsweise England -war nur noch eine unbedeutende Staatsmacht; allein dies zu sagen bereitete ein gewisses blasphemisches Vergnügen. Dort unten war man natürlich

Weitere Kostenlose Bücher