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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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einhundertzweiundfünfzig, siebzehn Punkte über seinem eigenen Ergebnis. Und in jenen Tagen hielt man diese Werte noch für ebenso aussagekräftig wie Gewicht oder Körpergröße. Wenn er dem Quartett beim Proben zuhörte und sie hinsichtlich Phrasierung, Tempo oder Dynamik eine andere Meinung hatte als Charles, der pausbäckige, schnöselige Cellist, dessen Gesicht vor Akne glänzte, faszinierte Edward, wie bestimmt Florence auftreten konnte. Sie ließ sich auf keine Diskussionen ein, horte nur ruhig zu und gab anschließend ihre Entscheidung bekannt. Nichts erinnerte dann an die fahrige Geste, mit der sie sich jene unsichtbare Strähne aus der Stirn strich. Sie beherrschte ihr Metier, und sie war fest entschlossen, das Quartett zu leiten, wie es einer Ersten Geigerin zustand. Selbst ihren furchterregenden Vater schien sie herumdirigieren zu können. Viele Monate vor der Hochzeit hatte er Edward auf ihren Wunsch hin eine Stelle angeboten. Ob Edward sie wirklich wollte oder es wagen könnte, sie abzulehnen, stand nicht zur Debatte. Außerdem wußte sie dank ihrer weiblichen Intuition genau, was für das Hochzeitsfest gebraucht wurde, kannte die nötige Zeltgröße ebenso wie die erforderliche Puddingmenge oder die Summe, die man vernünftigerweise als Zuschuß von ihrem Vater erwarten durfte.
    »Das Essen kommt«, flüsterte sie und drückte kurz seine Hand, um ihn von weiteren Intimitäten abzuhalten. Die Kellner trugen das Rindfleisch auf, für ihn eine doppelte Portion. Außerdem wurden auf der Anrichte Sherrybiskuit, Cheddarkäse und einige Täfelchen Pfefferminzschokolade bereitgestellt. Nach einem gemurmelten Hinweis auf den Klingelknopf am Kamin - fest pressen und eine Weile gedrückt halten - zogen sich die Burschen zurück und schlössen behutsam die Tür hinter sich. Der Servierwagen klirrte, während er über den Korridor davonrollte, darauf hörten sie nach kurzer Stille noch ein lautes Johlen, vielleicht auch einen Freudenschrei, der aus der Hotelbar zu ihnen heraufdrang, dann aber waren die Frischvermählten endlich allein.
    Wie in weiter Ferne zersplitterndes Glas hörte es sich an, als der Wind, der offenbar die Richtung wechselte oder kräftiger wurde, ihnen das Rauschen kleinerer, sich rascher brechender Wellen zutrug.
    Der Dunstschleier löste sich auf und ließ die Konturen der niedrigen Hügel erahnen, die gen Osten das Ufer säumten. Sie konnten ein weiches, graues Leuchten ausmachen, die seidige Oberfläche des Meeres oder der Bucht, vielleicht auch den Himmel, das ließ sich nicht sagen. Durch die spaltbreit geöffnete Balkontür trug eine kräftige Bö einen verlockenden Geruch nach Salz ins Zimmer, nach frischer Luft und offener See, was so gar nicht zu dem steifen Tischtuch passen wollte, zur mehlschwitzigen Soße und dem schweren, polierten Silberbesteck in ihren Händen. Das Hochzeitsessen am Mittag war überreichlich gewesen, sie hatten keinen Hunger. Theoretisch konnten sie die Teller einfach stehenlassen, sich die Weinflasche schnappen, zum Strand laufen, die Schuhe abstreifen und ihre Freiheit genießen. Niemand im Hotel hätte sie aufgehalten. Sie waren schließlich erwachsen, im Urlaub, sie konnten jeder Lust und Laune frönen. Und in nur wenigen Jahren wäre es genau das, was ganz gewöhnliche junge Leute tun würden, doch Edward und Florence waren Gefangene ihrer Zeit. Selbst unter vier Augen galten tausend unausgesprochene Regeln. Und gerade weil sie nun erwachsen waren, taten sie nichts so Kindisches wie von einem Mahl aufzustehen, das man mit viel Mühe eigens für sie angerichtet hatte. Schließlich war Abendessenszeit.
    Und sich kindisch zu benehmen war noch nicht erstrebenswert oder gar in Mode.
    Trotzdem lockte Edward der Strand, und hätte er gewußt, wie sich ein entsprechender Vorschlag rechtfertigen ließe, hätte er Florence vielleicht gebeten, mit ihm nach draußen zu laufen. Er hatte Florence zuvor aus einem Reiseführer vorgelesen, daß die Kiesel am achtzehn Meilen langen Strand durch heftige Stürme im Lauf von Jahrtausenden sortiert worden waren und die größeren am östlichen Ende lagen. Einer Sage zufolge konnten die Fischer, die nachts an Land kamen, allein an der Größe der Kiesel erkennen, wo sie sich befanden. Florence hatte vorgeschlagen, dies zu überprüfen, indem sie in einer Meile Abstand Steine sammelten und miteinander verglichen. Ein Spaziergang am Meer wäre jedenfalls besser, als hier herumzusitzen. Die ohnedies niedrige Decke schien noch

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