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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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bemühte sie sich um diesen Eindruck, als sie sah, wie niedergeschlagen ihre Mutter und ihre Schwester waren. Sie lief vornweg, die Essnäpfe und Löffel im Kochtopf. Die zerfledderte Wolldecke hatte sie ihrer Mutter um die Schultern gelegt.
    »Es wird alles gut, Mutter«, sagte sie zu ihr. »Auf der Farm hätten wir sowieso nicht mehr lange durchgehalten. In der Stadt ist alles besser. Keine Angst, wir finden bestimmt eine Unterkunft. Irgendjemand nimmt uns auf.«
    »Ich weiß nicht.« Die Augen ihrer Mutter waren voller Zweifel. »Du hast doch gehört, was die Rankins gesagt haben. Meinst du, Städter reagieren anders? Auch dort haben James Whitmore und sein Board of Guardians das Sagen. Sie wollen nicht, dass mehr Leute in die Stadt kommen. Sie wollen, dass möglichst viele Leute die Grafschaft verlassen, um Geld für Hilfsleistungen zu sparen. Weißt du noch, was der Wanderarbeiter gesagt hat? In den Städten sterben mehr Menschen als auf dem Land.« Sie blieb stehen und blickte nachdenklich in die Ferne. »Ich weiß, ich habe auch nie daran gedacht, in ein Arbeitshaus zu gehen, aber dort hätten wir wenigstens etwas zu essen.«
    »Lass es uns erst einmal in der Stadt versuchen, Mutter. Wer weiß, was uns in Castlebar erwartet. Ins Arbeitshaus können wir immer noch gehen.«
    Von der vagen Hoffnung beseelt, in Castlebar könnte sich ihr Schicksal tatsächlich zum Besseren wenden, hielten sie weiter auf die Stadt zu. Immer wieder einmal wagte sich die Sonne zwischen den Wolken hervor und ließ die Wiesen zu beiden Seiten der Wagenstraße noch grüner erscheinen, als sie wirklich waren. Inmitten des satten Grüns leuchteten gelbe Butterblumen. Der Anblick der üppigen Natur täuschte darüber hinweg, was für ein Drama sich in dieser pittoresken Umgebung abspielte, und auch Molly, Fanny und ihre Mutter ließen sich von den romantischen Bildern in die Irre führen und waren umso entsetzter, als sie einen Hügel erklommen und die Leichen einer ganzen Familie neben der Straße liegen sahen. Ein Mann, eine Frau, beide jung, und drei kleine Kinder, eins davon noch ein Säugling. Sie waren nackt, anscheinend hatten Bettler und Obdachlose ihre Kleider genommen, und schienen nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Ihre Haut war beinahe schwarz.
    »Schwarzes Fieber«, erkannte Rose Campbell. Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Seitdem unzählige Menschen während der ersten Hungersnot an der Krankheit gestorben waren, wusste jeder, dass es keine wirksame Medizin gegen dieses tödliche Fieber gab. »Schnell weiter, bevor wir uns anstecken!«
    Doch kaum waren sie über den Hügel hinweg, lagen wieder Tote am Straßenrand, diesmal nur Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, alle um die zehn Jahre alt. Auch diesen Leichen hatte man die Kleider geraubt. Ihre Haut war dunkel und wies mehrere Eiterbeulen und Pusteln auf. Sie schienen noch länger in der Sonne gelegen zu haben. Warum sie niemand eingesammelt hatte, wussten sie nicht. Ihr Anblick war so abschreckend, dass Fanny sich übergeben musste. Sie klammerte sich an ihre Mutter und weinte hemmungslos. »Warum, Mutter? Warum lässt unser Herrgott so etwas zu? Warum mussten diese Menschen sterben? Sie waren noch so jung.« Sie löste sich zögernd von Rose und blickte wieder auf die Leichen, als gehorchte sie einem inneren Zwang. »Jünger als Molly und ich, Mutter! Sie waren viel jünger als wir beide!«
    »Gegen das Schwarze Fieber ist kein Kraut gewachsen, mein Kind.«
    Der Gestank, der von den Leichen ausging, war beinahe unerträglich. Ein scharfer und ätzender Geruch, der einem den Atem nahm und sich tief in die Haut einzubrennen schien. Selbst an heißen Sommertagen hatte es in ihrer stickigen Hütte niemals so streng gerochen, selbst dann nicht, wenn die Schweine sich entleert hatten. Fanny blieb neben ihrer Mutter und schob einen Zipfel der Wolldecke vor Mund und Nase, auch Molly hielt sich die Nase zu. Ihre Mutter ertrug den Gestank und blickte ahnungsvoll in die Ferne, als hätte sie Angst, hinter dem nächsten Hügel noch Schlimmeres zu entdecken.
    Doch dort kamen ihnen nur zwei Männer mit einem Leiterwagen entgegen. In dem Wagen lagen mehrere Decken. »Wir sammeln die Toten ein«, erklärte der Ältere. »Gibt’s da hinten noch Leichen?« Er deutete nach Süden.
    Rose Campbell berichtete ihm von den Toten, die sie gesehen hatten. In ihrer Stimme klang Resignation mit, als hätte sie bereits jegliche Hoffnung aufgegeben. »Das Schwarze Fieber hat sie

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