Am Ufer Des Styx
puterrot. »Sie sind eine Lady aus gutem Hause und haben nichts Besseres zu tun, als sich dem nächstbesten Wilden an den Hals zu werfen wie eine billige …«
Weiter kam Lester nicht. Die schallende Ohrfeige, die an seiner linken Wange explodierte, brachte ihn jäh zum Verstummen.
»Das war eine Tätlichkeit«, stellte er fest. »Gegen einen Justizbeamten. Das wird Folgen haben.«
»Das denke ich nicht«, entgegnete Sarah, die mit bebender Brust und geballten Fäusten vor ihm stand. »Ich habe einflussreiche Freunde. Auch bei Scotland Yard.«
»Dennoch stehen Sie nicht über dem Gesetz«, gab der Inspektor zu bedenken, während er seine schmerzende Wange rieb. »Sie können von Glück sagen, dass ich großmütig gelaunt bin, sonst würde ich Sie ebenfalls ergreifen und abführen lassen.«
»So sollte ich Ihnen für Ihren Großmut wohl dankbar sein«, stieß Sarah zornbebend und mit vor Sarkasmus triefender Stimme hervor.
»Von mir aus können Sie tun und lassen, was Sie wollen«, entgegnete Lester, während er sich umdrehte und auf sein Pferd zu trat, das einer der Constables für ihn am Zügel hielt. Der Gefängniswagen war verriegelt worden und bereit zur Abfahrt. »Es ändert nichts daran, dass Ihr farbiger Freund sich vor Gericht verantworten muss.«
»Ich werde dafür sorgen, dass er den besten Verteidiger bekommt, der sich finden lässt«, antwortete Sarah in hilflosem Trotz. »Ich werden Sir Jeffrey Hull engagieren, seines Zeichens Q. C. 1 und ehemaliger Anwalt des Temple Bar …«
»Nur zu«, ermunterte Lester ungerührt, während er auf seinen Schecken stieg. »Es ändert nichts an der Sache.«
Damit nahm er die Zügel, drehte sein Pferd auf der Hinterhand herum und gab dem Kutscher des Gefängniswagens ein Zeichen. Die Peitsche knallte, und der Vierspänner setzte sich in Bewegung.
Sarah blieb nichts, als hilflos dabei zuzusehen.
Entsetzt schaute sie zu, wie die Constables ihre Pferde bestiegen und der Gefängniswagen zum Tor hinausrumpelte. Durch das vergitterte Fenster, das in die Hecktür der Kutsche eingelassen war, konnte Sarah Kamals Gesicht sehen. Alle Farbe und jede Empfindung waren daraus gewichen. Kamals Züge waren zur blassen, eisernen Maske erstarrt, nur seine Blicke verrieten Zorn.
»Ich habe dich nicht verraten«, rief sie, während sie der Kutsche nachsetzte, barfüßig wie ein Kind, das einem Zirkuswagen hinterherrannte. »Bitte, glaub mir, Kamal! Ich habe dich nicht verraten! Ich liebe dich! Ich würde niemals etwas tun, das dir …«
Sie unterbrach sich, als sie im feuchten Morast, den die Pferdehufe und Fuhrwerksräder hinterließen, ausglitt und zu Boden schlug. Bäuchlings landete sie im Schlamm, der ihr Gesicht und ihren Mantel besudelte. Sofort drang die Feuchtigkeit durch das Nachtgewand und ließ sie erbärmlich frieren. Am ganzen Körper zitternd, richtete sie sich halb auf – nur um zu sehen, wie die Kutsche mit ihrem Geliebten in Nacht und Nebel entschwand.
Noch einen Augenblick lang waren die Laternen der Kutsche und die Fackeln der Reiter zu sehen – dann waren auch sie verschwunden.
»Ich war es nicht«, flüsterte Sarah mit versagender Stimme. »Ich habe dich nicht verraten …«
Und endlich brachen die Tränen der Verzweiflung sich Bahn.
In gezackten Rinnsalen rannen sie über ihr Gesicht, während sie im kalten Schlamm kauerte und ihre Hände in das feuchte Erdreich grub, bis sie vor Kälte schmerzten – und schlagartig spürte Sarah Kincaid, wie auch die Furcht zu ihr zurückkehrte.
4.
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
Ich kann es selbst kaum glauben. Nach Monaten vermeintlicher Ruhe, in denen ich alles darangesetzt habe, zu vergessen und die Vergangenheit hinter mir zu lassen, ist sie ebenso unerwartet wie grausam zurückgekehrt und in mein Leben eingebrochen. Dabei vermag ich noch immer nicht zu beurteilen, was schwerer wiegt – die Tatsache, dass mein Geliebter wegen Mordes verhaftet und nach London gebracht wurde, oder dass er mich für die Urheberin dieser schrecklichen Wendung hält.
Sosehr es mich verletzt, dass er solches von mir denkt, kann ich es ihm nicht verübeln. Die Erinnerung an jene Nacht, in der wir einander dem Gesetz der Wüste folgend unsere innigsten Geheimnisse anvertrauten, ist mir noch immer gegenwärtig. Rückblickend glaube ich, dass es jene Nacht war, in der ich, freilich noch ohne es zu ahnen, mein Herz an Kamal verlor. Denn ohne den genauen Grund dafür benennen zu können, fühlte ich, dass wir
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