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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Gerichte stehen«, erwiderte Sarah. »In Kamals Fall jedoch konnte von einem fairen Prozess keine Rede sein. Er hat mir erzählt, dass einer der Zeugen hämisch grinste, als der Freispruch verlesen wurde.«
    »Kein System ist vollkommen«, räumte Milton Fox ein. »Aber das gab Kamal nicht das Recht, diese Männer auf eigene Faust zu richten, nachdem ein königliches Gericht sie freigesprochen hatte.«
    »Was genau soll er getan haben?«, wollte Sir Jeffrey wissen.
    »Er wird beschuldigt, im April 1869 zunächst den königlichen Grenadier Samuel Tennant mit zwei Messerstichen ins Herz getötet zu haben. Anschließend verstümmelte er den königlichen Grenadier Leonard Albright, indem er ihn zu einem geschlechtslosen, elenden Krüppel machte. Albright schied aus dem Waffendienst aus und nahm sich ein halbes Jahr nach diesen fürchterlichen Ereignissen das Leben.«
    »Grundgütiger«, murmelte Sir Jeffrey, und es war ihm anzusehen, wie sehr sich alles in ihm gegen solche Barbarei empörte.
    »Wäre Ihr Entsetzen auch so groß«, fragte Sarah leise, »wenn Kamal ein Gentleman alter englischer Schule wäre? Wenn er die Mörder seiner Braut nicht nächtens mit einem Messer gerichtet hätte, sondern beim ersten Licht des Tages mit einer Pistolenkugel?«
    Weder Sir Jeffrey noch Milton Fox erwiderten daraufhin etwas. Der betretene Blick, den die beiden tauschten, sprach jedoch Bände.
    »Bei allem Respekt, meine Herren«, flüsterte Sarah, die einmal mehr mit Tränen des Zorns und der Verzweiflung zu kämpfen hatte, »Sie sind Heuchler und messen mit zweierlei Maß. Wollen Sie behaupten, dass Kamal unter solchen Voraussetzungen in diesem Land einen fairen Prozess bekommt?«
    »Nun«, brummte Jeffrey Hull und strich sich ein wenig verlegen durch das spärliche Haar. »Möglicherweise hat unsere gemeinsame Freundin Recht, Milton. Vielleicht sind wir tatsächlich ein wenig voreingenommen gewesen …«
    »Das mag für Sie gelten, Sir Jeffrey, aber nicht für mich«, meinte Fox überzeugt. »Als Beamter von Scotland Yard ist Voreingenommenheit etwas, das ich mir nicht leisten kann. Ich bestreite nicht, dass bisweilen Fehler gemacht werden, und natürlich bin ich Kamal und seiner Sache zugetan. Jedoch bin ich als Teil des Justizapparates zur Neutralität verpflichtet. Ich kann ihm nicht helfen.«
    »Das verstehe ich«, sagte Sarah und nickte.
    »Allerdings«, fuhr der Superintendent fort, »werde ich dafür sorgen, dass Inspector Lesters Anzeige gegen Sie den langen Dienstweg nimmt – was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als dass Sie nie wieder etwas davon hören werden.«
    »Das … ist sehr freundlich. Danke, Milton.«
    »Ich wünschte, ich könnte mehr für Kamal und Sie tun, Sarah. Aber das ist nun einmal nicht möglich.«
    »Können Sie uns stattdessen etwas über die Quelle Ihrer Informationen berichten?«, erkundigte sich Sir Jeffrey. »Wer hat Ihnen den entscheidenden Hinweis gegeben? Woher wussten Ihre Leute, wie Kamal sich jetzt nennt und wo er sich aufhält?«
    »Tut mir leid, Sir Jeffrey – ich bin nicht befugt, Ihnen darüber Auskunft zu erteilen.«
    »Zum Donnerwetter, Junge!«, polterte der königliche Berater drauflos, in einem seltenen Ausbruch jugendlichen Temperaments, der Sarah ein wenig an ihren Vater erinnerte. »Haben Sie noch nicht begriffen, worum es hier geht? Wenn Kamal die volle Härte des Gesetzes trifft, wird er entweder am Galgen enden oder für immer im Zuchthaus sitzen. Sie verdanken diesem Mann Ihr Leben, Milton, das sollten Sie nicht vergessen!«
    »Das tue ich nicht«, versicherte Fox und rutschte einmal mehr auf seinem Sessel hin und her, während er sich wand wie ein – allerdings ziemlich beleibter – Aal. »Die Sache ist nur, dass die Vorschriften …«
    »Vergessen Sie die Vorschriften nur dieses eine Mal, und tun Sie das, wozu Ihr Herz Ihnen rät. Sie sind ein wahrer Gentleman, mein junger Freund, das weiß ich, also handeln Sie auch entsprechend.«
    »Aber ich … ich …« Fox’ Züge verfärbten sich und wurden fleischig rot, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
    Sarah konnte nicht anders, als Sir Jeffrey höchsten Respekt zu zollen. Unerwartet, fast beiläufig hatte der königliche Berater Milton Fox unter Druck gesetzt und schien ihn noch dazu an seiner verwundbarsten Stelle getroffen zu haben – seiner Ehre. Sarah begann aufzugehen, weshalb dieser Mann einst den Ruf genossen hatte, einer der besten Anwälte des Temple Bar zu sein. Im heißen Wüstensand war davon

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