Am Ufer Des Styx
gefährlichen Kriminellen seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
»Er ist kein Krimineller«, begehrte Sarah auf. »Sein Name ist Kamal Ben Nara, und in seinem Land ist er Häuptling über einen großen und stolzen Stamm.«
»Vielleicht«, beschied Lester ihr kühl und glättete eitel sein Bärtchen, während er die Waffe wieder unter dem Gehrock verschwinden ließ. »Hier in England jedoch ist er ein gesuchter Verbrecher, und genauso wird er auch behandelt. Gentlemen – legen Sie ihm die Handschellen an, und bringen Sie ihn hinaus zum Wagen.«
Durch die offene Eingangstür konnte Sarah jetzt die Kutsche sehen, die im Hof stand – ein von zwei Gaslaternen beleuchteter Gefängniswagen mit vergitterten Fenstern, der von zwei weiteren Constables bewacht wurde. Man war tatsächlich ausgezogen, um einen Schwerverbrecher dingfest zu machen …
Unter den Blicken, die Kamal ihr sandte, während man ihm Hand- und Fußfesseln aus klirrendem Eisen anlegte, zuckte Sarah wie unter Peitschenhieben zusammen, soviel Enttäuschung lag darin. Fast schien es, als wären alle Liebe und Zuneigung, als wäre jede zarte Empfindung, die er für sie gehegt und die er sie noch vor wenigen Stunden auf so innige Weise hatte spüren lassen, mit einem Mal erloschen.
»Kamal«, sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus, aber er wandte sich von ihr ab, und die Constables schleppten ihn nach draußen. Inspektor Lester blieb noch lange genug, um ihr einen Blick zuzuwerfen, der mehr enthielt als die Genugtuung darüber, einen in seinen Augen gefährlichen Kriminellen verhaftet zu haben. Da war auch Schadenfreude – und eine Spur Verachtung.
Indem er sich nur nachlässig an die Hutkrempe tippte, statt den Zylinder zu heben, wie es der Anstand geboten hätte, wandte er sich ab und folgte seinen Männern nach draußen. Sarah blieb zurück, zusammen mit ihrem alten Diener, der ihr ebenso ratlose wie schuldbewusste Blicke zuwarf.
»Es tut mir leid, Madam«, ächzte er hilflos. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
»Keine Sorge, Trevor. Du kannst nichts dafür«, beruhigte Sarah ihn tonlos, während sie fassungslos zuschaute, wie ihr Geliebter abgeführt wurde. Zu schnell war alles gegangen, zu groß ihr Entsetzen, nicht nur über Kamals Verhaftung, sondern auch darüber, dass er ihr offenbar die Schuld dafür gab …
Durfte sie ihn so ziehen lassen?
Nein!
In einem jähen Entschluss stürzte sie hinaus, wo die Constables bereits dabei waren, Kamal in den Gefängniswagen zu bugsieren. Die Tür am Heck des hohen Gefährts war offen, unsanft stießen sie ihn hinein.
»Aufhören! Sofort aufhören!«, ereiferte sich Sarah. »Dazu haben Sie kein Recht!«
»Im Gegenteil, meine Teure – wir haben dazu jedes Recht«, beschied Lester ihr betont sachlich und zeigte ihr ein Blatt Papier. »Dieser Haftbefehl, ausgestellt vom Justizminister persönlich, ermächtigt mich, jede erforderliche Maßnahme zu treffen, um den mutmaßlichen Mörder zu fassen und in Gewahrsam zu nehmen.«
»Aber er ist kein Mörder!«, ereiferte sich Sarah, während ihr Tränen der Verzweiflung in die Augen stürzen wollten. Sie konnte nicht fassen, dass ihr das Glück, das sie für kurze Zeit verspürt hatte, so jäh entrissen werden sollte. »Jene Männer haben seine Frau und sein noch ungeborenes Kind getötet!«
»Dann hätte er sich an die Polizei wenden sollen.«
»Das hat er getan, aber man hat ihm nicht geglaubt.«
»Das gibt ihm noch lange nicht das Recht, Selbstjustiz zu üben. In seinem Land, bei seinem Stamm oder wie immer Sie es nennen mögen, mag das in Ordnung gehen – hier in England jedoch herrscht das Gesetz, und es ist meine Aufgabe, ihm Geltung zu verschaffen. So etwas nennt man Zivilisation.«
»Wenn Sie wüssten«, erwiderte Sarah mit mühsam zurückgehaltenem Zorn, »wie ich Menschen Ihres Schlages verabscheue. Wäre es mit Ihrer Bildung nur halb so weit her wie mit Ihrer Arroganz, so wüssten sie, dass Zivilisation nichts ist, worauf wir das Patent angemeldet haben. In Kamals Heimat wurden Wissenschaft und Kultur gepflegt, als sich unsere Vorfahren noch in Höhlen versteckten.«
»Das ist Ihre Ansicht«, konterte Lester kühl. »Da ich ein Gentleman bin, verbietet sich mir eine angemessene Antwort. Ich gebe jedoch zu bedenken, dass nicht ich Schuld an Ihrem Schmerz trage, sondern niemand anders als Sie selbst.«
»Wie bitte? Was soll das nun wieder bedeuten?«
»Ich bitte Sie!«, zischte der Inspektor, und seine Gesichtszüge wurden dabei
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