Am Ufer Des Styx
einander ähnlich sind, verwandte Seelen im Strom der Zeit …
Sollte mich dieser Eindruck getrogen haben?
Der Blick, den Kamal mir durch die Gitterstäbe zugeworfen hat, will mir nicht aus dem Kopf gehen. Er verfolgt mich auf Schritt und Tritt, bis hinein in den Schlaf und in meine Träume. So viel unausgesprochene Anklage lag darin, so viel stummer Zorn. Ist seine Liebe zu mir tatsächlich erloschen? Habe ich für immer verloren, was ich gewonnen zu haben glaubte?
Ich will mich nicht kampflos in dieses Schicksal fügen, denn noch immer bin ich mir keiner Schuld bewusst. Weder habe ich jemandem von Kamals Geheimnis berichtet, noch habe ich etwas anderes getan, das sein Misstrauen rechtfertigt. Ich hoffe inständig, dass es mir gelingen wird, ihn von meiner Unschuld zu überzeugen – andernfalls wird sein Stolz ihm verbieten, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen, und ohne eine ordentliche Vertretung vor Gericht scheint mir Kamals Verurteilung schon jetzt besiegelt.
Ich habe mich daher entschlossen, die Geborgenheit von Kincaid Manor einmal mehr zu verlassen und nach London zu reisen, um meinen alten Freund Jeffrey Hull um Hilfe zu ersuchen. Gleichzeitig muss ich herausfinden, woher Scotland Yard die Informationen hatte, die zu Kamals Verhaftung führten, denn nur so kann ich ihm meine Loyalität beweisen …
S COTLAND Y ARD W HITEHALL
P LACE , L ONDON
23. S EPTEMBER 1884
Milton Fox hatte sich verändert. Die fein geschnittenen, von einer spitzen Nase beherrschten Gesichtszüge, in denen es ab und zu nervös zuckte, hatten noch immer etwas von dem Tier, dessen Namen er trug. Dennoch war Fox gesetzter geworden und hatte einige Pfunde zugelegt, was möglicherweise der Beförderung zum Superintendent zuzuschreiben war, die er infolge seiner Teilnahme an der Suche nach dem Buch von Thot erhalten hatte.
Zwar hatte die Expedition unter der Leitung Sarah Kincaids offiziell niemals stattgefunden und die Aufzeichnungen darüber wurden in den verborgensten Archiven von Horse Guard, dem Kriegsministerium, aufbewahrt. Da es jedoch auch darum gegangen war, einen leiblichen Neffen der Königin vom Mordverdacht zu befreien, war die Kunde der dramatischen Ereignisse, die sich zunächst in London und später in Ägypten abgespielt hatten, bis in den Palast von St. James gedrungen, was sich für einige der Beteiligten zu ihrem Vorteil ausgewirkt hatte.
Mit gravitätischer Miene und ineinander verschränkten Händen saß Fox hinter seinem großen Teakholzschreibtisch und überflog den Bericht, den er vor sich liegen hatte. Dabei ließ er immer wieder ein rügendes Zungenschnalzen vernehmen, das Sarah das Gefühl gab, ein kleines Mädchen zu sein, das von seinem Lehrer gescholten wurde.
Auf Fox’ Aufforderung hatte sie in einem der beiden lederbezogenen Besuchersessel Platz genommen. Sir Jeffrey, der sie für die Dauer ihres Aufenthalts in London freundlicherweise in seinem Haus aufgenommen hatte, hatte es sich nicht nehmen lassen, sie zum Yard zu begleiten. So saß er neben ihr und wartete nicht weniger gespannt als sie auf das, was Milton Fox zu sagen haben würde.
»Sarah, Sarah«, ließ dieser sich endlich zu einem Kommentar herab und blickte auf. In seinen filigranen Zügen spiegelte sich Besorgnis. »Ich fürchte, Sie haben sich diesmal in arge Schwierigkeiten gebracht. Widerstand gegen die Staatsgewalt, Tätlichkeit gegen einen verdienten Justizbeamten, der lediglich seine Pflicht tat …«
»Er ist ein Schwein«, erklärte Sarah unverblümt und zum Entsetzen nicht nur von Milton Fox.
»Meine Liebe«, ereiferte sich Sir Jeffrey und hob die buschigen, weißen Brauen. »Ich muss doch sehr bitten …«
»Es ist wahr«, beharrte Sarah ungerührt. »Er war auf dem besten Weg dazu, mich eine Hure zu nennen. Ist es das, was Sie unter einem verdienten Beamten verstehen, Milton?«
»Natürlich nicht«, wehrte Fox ab. »Inspector Lester wird dafür eine offizielle Rüge erhalten und einen Vermerk in seiner Dienstakte. Aber das gibt Ihnen nicht das Recht zu einer Tätlichkeit.«
»Inspector Lester«, erwiderte Sarah trotzig, »hat mich in meiner Ehre gekränkt. Wäre ich ein Mann, würden wir diese Diskussion vermutlich nicht einmal führen.«
»Sie sind aber nun einmal, was Sie sind – und es ist eine Tatsache, dass Ihr Verhältnis zu Kamal …«
»Ja?«, bohrte Sarah nach, als Fox errötend nach Worten rang.
»… nicht den landläufigen Vorstellungen von einer legitimen Verbindung entspricht«, wartete er schließlich
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