Am Ufer (German Edition)
Landschaftsschutzgebiet erklärt worden, aber niemand überwacht oder pflegt ihn: null Etat), keiner kennt das komplizierte netzartige Raster, das man jedes Mal wieder neu im Gedächtnis rekonstruieren muss, da es zusammen mit jenen, die es genau kannten und halbwegs begehbar hielten, verschwunden ist. Ich kenne diese Landschaft seit über sechzig Jahren. Ich bin allein hier gewesen und in Begleitung von Francisco, Álvaro, Julio und in letzter Zeit auch mit Ahmed. Ich habe nie aufgehört, dieses Gebiet aufzusuchen, seitdem mein Onkel Ramón mich ein, zwei Mal die Woche mitnahm, um hier ein Blässhuhn, eine Schnepfe oder vielleicht eine Rouenente oder eine sogenannte Moschusente, bei den Franzosen als Barbarieente bekannt, zu schießen, allesamt Tiere, die dafür sorgten, dass der häusliche Eintopf, bestehend aus Reis – dem unvermeidlichen lokalen Getreide –, etwas Spinat, ein paar Kartoffeln, einer Handvoll weißer Bohnen, etwas Mangold oder ein paar Artischockenstielen, um die geschätzte Proteinzugabe bereichert wurde, und zwar durch Fleischsorten, die auf dem Markt als Luxusgüter galten, obwohl die Mehrzahl der Bauern, statt selbst die Jagdbeute zu verzehren, sie an Restaurants oder an Verteiler verkaufte, die sie an die Metzgereien in Valencia lieferten. Die Proteine aus dem Sumpf bezahlten solche minderer Qualität, die auf dem Markt zu bekommen waren: Speckschwarten, Innereien, Chorizos und Blutwürste. Sagen Sie doch mal, wie viele Kartoffelsorten gibt es hier? Wir haben dort über tausend, heißt es, und was haben die alle für Namen,
pastusa, tuquerreña, mambera
… Ihr wisst nur ganz wenig von dort. Im Fernsehen wird doch nur über Kolumbien gesprochen, wenn was mit dem Drogenhandel ist oder die Guerilla ein Massaker verübt hat.
Ich habe mich auf den Wegen im Sumpfgelände bewegt, seit ich mich erinnern kann. Mein Onkel hat mich den Umgang mit demGewehr gelehrt, als ich gerade mal elf oder zwölf war (damals reiften wir Kinder schnell; mit neun oder zehn halfen wir auf dem Feld, beim Bau, in den Werkstätten). Der Rückstoß meines ersten Schusses warf mich fast um und hinterließ einen Bluterguss an meiner Schulter. Wie man sich vorstellen kann, hatte ich nicht getroffen, und so wandte ich mich dem Onkel voller Scham zu. Ich dachte, er würde sich über mich lustig machen, aber nein, er lachte nicht, wie ich befürchtet hatte, sondern strich mir mit der Hand über den Kopf, strubbelte mein Haar und sagte: Du hast soeben die Macht erhalten, Lebendiges zu töten, eine eher erbärmliche Macht, die wahre Macht – und die hat niemand, nicht einmal Gott, das mit Lazarus glaubt doch keiner – wäre, etwas Totes wieder lebendig zu machen. Das Leben zu nehmen ist leicht, das kann jeder. Das wird tagtäglich überall auf der Welt praktiziert. Du musst nur die Zeitung aufschlagen. Sogar du kannst das, jemandem das Leben nehmen, vorausgesetzt, klar, du verbesserst ein wenig deine Treffsicherheit (da lächelte er dann doch und kniff spöttisch die lebhaften, grauen Augen zusammen, denen die gute Laune ein Spinnennetz kleiner Falten beigegeben hatte). Dem Menschen, der es geschafft hat, riesige Gebäude zu errichten, ganze Berge verschwinden zu lassen, Kanäle auszubaggern und Brücken über das Meer zu schlagen, ist es nicht gelungen, die Lider eines Kindes, das gerade gestorben ist, wieder zu heben. Er sagte mir: Manchmal ist das Massigste und Schwerste am leichtesten zu bewegen. Riesige Steine auf der Ladefläche eines Lasters, Loren, beladen mit schwerem Erz. Aber sieh mal, das, was du in dir trägst, was du denkst, was du wünschst, das, was scheinbar gar nichts wiegt, das kann sich kein noch so kräftiger Kerl über die Schulter werfen und an einen anderen Ort tragen. Kein Lastwagen kann es bewegen. Jemanden, der dich verachtet oder dem du gleichgültig bist, dazu zu bringen, dich zu lieben, ist weit schwieriger, als ihn mit der Faust niederzuschlagen. Männer schlagen aus Ohnmacht. Sie glauben, dass sie mit Gewalt das erreichen können, was sie nicht fähig sind, mit Zärtlichkeit und Intelligenz zu erreichen.
Solche Sachen muss er von meinem Großvater gelernt haben, der sich die Romane der Russen aus der Volksbibliothek in Misent (in Olba gab es noch keine Bibliothek) holte, zu der er mit dem Fahrrad fuhr. Er zog für diese Fahrten seinen Sonntagsstaat an, die Aufschläge der Hosen sorgfältig mit den Klammern zusammengehalten. Ebenso habe ich es Jahre später freitagnachmittags bei meinem Vater
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