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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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Grenzgänger unter den Fischen kaum noch in den Kanälen des Sumpfgeländes zu finden. Mein Onkel witterte sie, mit geradezu geheimnisvoller Präzision. Ich sagte, er habe eine gute Nase, in Wahrheit aber hatte er einen gesunden Menschenverstand. Ein Ordnungssystem im Kopf, ein Raster: jede Art, Süßwasser oder Salzwasser, jedes Tierchen – egal in welcher Umgebung, das gilt übrigens auch für die Vögel, und wenn du es genau wissen willst, sogar für die Menschen – erfordert eine eigene Kunst und einen eigenen Köder, einen bestimmten Ort und eine bestimmte Gelegenheit, erklärte er mir, während er den Angelhaken bediente. Das waren Worte, mit denen ich zunächst nichts anfangen konnte: Der Fischer, der daran scheitert, den richtigen Köder anzubringen, hat nicht begriffen, wie die Fische denken, ein Angler, ein Jäger muss sich selbst in seine Beute verwandeln, so denken wie sie. Der wahre Angler, der echte Jäger, verliebt sich deshalb in sein Opfer: Er lauert sich selbst auf. Und er empfindet Mitleid mit dem Opfer, mit sich selbst. So, so musst du den Angelhaken halten, nein, heute werden wir nicht wie sonst das Mehl verwenden, heute habe ich diesen Teig mitgebracht, riech mal dran. Du findest ihn eklig? Das riecht faulig? Die Fische lieben diesen Geruch. Die Krabben auch. Alles verwest, auch wir werden einmal verwesen und dann noch sehr viel übler stinken als diese Fischchen. In vielen, vielen Jahren wirst auch du verwesen. Genau das, die Verwesung, das schätzendie Fische. Wenn du erst mal erwachsen bist, wirst du merken, dass sie auch darin den Menschen gleichen. Glaub ja nicht, du wirst davor bewahrt bleiben, nach totem Hund zu stinken, Esteban. Am Ende riechen wir alle so. Ganz wie ein Arzt jedem Kranken seine eigene Medizin verordnet, so bot Onkel Ramón jedem Tier seine eigene Lockspeise und lehrte mich, wie ein Fisch zu denken, wie ein Aal, wie eine Stockente, während ich die Lockspeisen des Lebens kennenlernte. Du wirst verfaulen, Kleiner. Und du wirst stinken. Wie jedermann. Sieh nur, welche Schönheit, die Farbe, die Zeichnung des Gefieders am Hals der Ente. Aber sie ist tot.
    Seitdem sind sechzig Jahre vergangen. Genug, um das Netz kleiner Adern wahrzunehmen, die an den Beinen des einstigen Jungen emporklettern. Sie bilden ein Bindewerk, das in der Höhlung unter dem Fußspann sich zu einer dunklen Masse verdichtet; schuppige Haut an Armen und Brust, die jetzt die gelbliche Farbe alten Elfenbeins haben, Flecken im Gesicht, auf dem Handrücken, dazu der Geruch des Alters, der Schweiß ranziger Milch, Liliana, eine Aura aus Rost und Urin. Der Körper ist nicht länger eine Gewissheit, sondern Zweifel, Verdacht. Das Vertrauen darauf, dass der nächste Tag kommt, obwohl du weißt, dass der nicht besser wird. Geht die Färbung des linken Fußes nicht schon vom Blauen ins Schwarze über? Bei den Alten werden die Füße manchmal brandig und müssen amputiert werden.
    Nach den strikten Regeln meines Onkels stirbt jede Beute ihren eigenen Tod, in einem Ritual, so präzise, dass es ans Religiöse streift. Schließlich und endlich hat weder er noch mein Vater noch mein Großvater, keiner in diesem Haus, eine andere Religion gehabt als die Unterwerfung unter die Gesetze, die ihnen die Natur auferlegte oder der Beruf diktierte (vielleicht ist die Schreinerei mehr als die meisten anderen Berufe eine Verlängerung der Natur: Ein Mann dringt, mit einer Axt bewaffnet, in einen Wald ein und verwandelt mit seinen Händen und seinem Werkzeug die Natur in ein zivilisiertes Gebrauchsgut), im Inneren aber bewahrten sie diese anderenGesetze, die sie im bürgerlichen Leben vermissten (jene, von denen die alten russischen Bücher kündeten, für ein Leben, nach dem sie gestrebt hatten und in dessen Sturm sie erstickt waren). Von den Gesetzen der Natur erlernten sie die Grundbegriffe. Ihr Trachten nach Gerechtigkeit und einem harmonischen Leben in Gemeinschaft wurde durch den Bürgerkrieg abgebrochen. Beim Großvater mit ein paar Kugeln vor einer Mauer außerhalb von Olba (es war nur ein Schuss, Esteban, ins Genick, warum sollten sie Munition verschwenden), am nächsten Morgen fand man ihn mit fünf anderen vor der Friedhofsmauer liegen, an jener Stelle, wo der Friedhof an die Felsen grenzt (das Summen der Wespen an jenem Frühlingsmorgen wies auf die Leiche hin, im Genick hatte er das Brandmal des Schusses). Bei meinem Vater war ein solches Trachten in eineinhalb Jahren Krieg, drei Jahren Gefängnis sowie der

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