Am Ufer (German Edition)
Wangen und Lider, verletzt ihn. Schiebt er es beiseite, spürt er die scharfen Blattränder in den Handflächen. Sobald er die Angelrute geholt hat, muss er wieder auf die Landstraße, denkt er, an die Stelle, wo er sich mit seinem Freund verabredet hat; andererseits wäre es eine Dummheit, dort am Ende des Weges neben dem Straßengraben zu sitzen und wie üblich zuwarten, damit würde er für Indizien sorgen, die gegen ihn sprechen, ja, Indizien, so denkt er bereits, als nähme er einen Teil der Schuld auf sich. Er entscheidet, dass er dort nicht warten kann, er kann aber auch nicht verschwinden, nicht dass der Freund ihn am Ende auf dem Sumpfweg sucht und später dann das Auto wiedererkannt wird, wenn die Ermittlungen aufgenommen werden, was zweifellos geschehen wird (nein doch, in diesen versteckten Winkel kommt niemand, sagt er sich), wobei man dann den fünfzehn Jahre alten Ford Mondeo identifizieren würde: Er fällt einfach auf in seinem jämmerlichen Zustand, mit den zerbeulten Türen und dem angefressenen Lack und der mit einem Draht befestigten hinteren Stoßstange. Außerdem ist da ja noch das ausgebrannte Fahrzeug, das am Dünenhang ziemlich leicht zu sehen ist, und irgendjemand wird die Verschwundenen melden, man wird nach ihnen fahnden, obwohl, wer weiß, wer diese Leichen sind. Vermutlich Immigranten wie er selbst, Leute, die nur kurz hier waren, Mafiosi, an denen eine alte Rechnung beglichen wurde: Marokkaner, Kolumbianer, Russen, Ukrainer, Rumänen. Vielleicht ein paar Nutten, die von ihren Luden erdrosselt wurden und nach denen keiner fragt.
Er beschließt, auf der Landstraße Richtung La Marina zu laufen, vertraut darauf, dass Raschid ihn vom Auto aus sehen wird. Auch wenn er wollte, könnte er nicht stillstehen. Er geht ein paar Schritte Richtung Misent, dann kehrt er hastig wieder um, schaut unruhig auf die vorbeifahrenden Autos, wartet auf das von Raschid, als wäre das Auto des Freundes eine Zuflucht: Sich hineinsetzen und wegdämmern, die Arme ausgestreckt, die Atmung kontrolliert, den Kopf an die Kopfstütze oder ans kalte Glas des Fensters gelehnt, Entspannung bis zum Verschwinden: Er bedient sich des psychologischen Mechanismus, dank dessen Kinder sich unsichtbar fühlen, wenn sie die Hand vor die Augen halten – wenn du nicht siehst, wirst du auch nicht gesehen. Es sich neben dem Fahrer auf dem Sitz des Mondeo bequem zu machen ist der Beweis dafür, dass er nichts mit dieser verwesten Hand zu tun hat, mit den stinkenden, halb imSchlamm versunkenen Bündeln, mit dem Blech des ausgebrannten Autos. Nachdem er sich in Raschids Mondeo bis zum Verschwinden entspannt hat, wird er, ein paar Kilometer weiter, an der Kreuzung mit dem Boulevard von La Marina, die Scheibe runterlassen, sich aus dem Fenster beugen und im scharfen abendlichen Fahrtwind sicher sein, nichts gesehen zu haben. Er wird einer mehr sein von den Tausenden von Menschen, die sich Tag für Tag über die Staatsstraße 332 bewegen, Menschen, die sich eine Zeit lang auf dieser besonders befahrenen Strecke ballen, um sich dann in den Kapillaren zu den kleinen Dörfern zu verlieren oder die Fahrt bis in irgendeinen Winkel Europas fortzusetzen. Kurzfristig denkt er, dass er ja keinem erzählen muss, was er gesehen hat (nicht einmal Raschid, der, sobald er neben ihm sitzt, merken wird, dass ihm etwas widerfahren ist. Warum hast du nicht bei der Abzweigung auf mich gewartet? Du wirkst ja so niedergedrückt, ist irgendwas passiert?), dennoch muss er alles so bald wie möglich jemandem erzählen; bevor er es nicht erzählt hat, wird er sich nicht beruhigen, erst wenn er die Angst teilt, wird er sich von ihr lösen können. Er nähert sich dem Ende des Weges, wird langsamer in seinem Lauf, bis er schließlich in einen normalen Schritt fällt. Er bleibt einen Augenblick stehen und wirft die gefangenen Fische aus dem Korb in den Straßengraben, sie ekeln ihn, er stellt sich vor, wie sie mit gierigen Mäulchen am Aas knabbern. Er könnte speien. Die Lagune, die bei seiner Ankunft wie eine flüssige Stahlschicht wirkte, zeigt jetzt etwas zart Sanftes, den Widerschein von altem Gold. Funkelndes Kupfer an den Wasserrippen, die der Wind aufwirft.
2
BEGEHUNG DER
SCHAUPLÄTZE
14. Dezember 2010
ICH HABE MEINEN VATER vor den Fernseher gesetzt, vor den Western, der jeden Morgen im Digitalkanal gebracht wird. Der Alte sitzt sprachlos vor dem Getümmel der Pferde, ihrem Wiehern, dem Geschrei der Indianer und den knallenden Schüssen: Ich weiß,
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