.Am Vorabend der Ewigkeit
der ihn sah.
Der Wassermörder war eine Wasserpflanze und von Natur aus ein halber Parasit. Er lebte meist in Astgabeln und senkte seine Wurzeln tief in das Mark des Baumes. Aber auch der obere Teil der Pflanze diente der Ernährung. Ein zungenförmiger Stiel schnellte vor und schlang sich um Grens linken Arm.
Gren war darauf vorbereitet. Mit einem Messerschnitt zertrennte er den Stiel in zwei Teile, trat achtlos mit den Füßen gegen die plötzlich wehrlose Pflanze und tauchte der Oberfläche entgegen.
Unterwegs begegnete ihm Daphe, die erfahrene Jägerin. Ihr Gesicht verriet Ärger über seinen Leichtsinn. Luftblasen perlten aus ihrem Mund und stiegen schnell nach oben. In der Hand hielt sie das Messer, um ihn gegen jeden Gegner zu verteidigen. Er grinste, als er neben ihr auftauchte.
»Niemand darf allein laufen, schwimmen oder klettern«, rief sie und zitierte damit eins der ungeschriebenen Gesetze. »Gren, fürchtest du dich eigentlich nie?«
Auch die anderen Frauen zeigten Ärger, aber keine von ihnen schlug Gren, denn er war ein Knabe. Er war tabu. Er besaß die magischen Kräfte, Seelen zu schnitzen und Kinder zu zeugen. Und Gren war bald erwachsen.
»Ich bin Gren, ein Knabe«, prahlte er und trommelte sich gegen die Brust. Seine Augen suchten Haris, der ihn doch sonst immer wegen seiner Tapferkeit lobte. Aber Haris sah nur weg und schwieg. Seit Gren größer wurde, lobte er ihn nicht mehr so oft.
Ernüchtert schwenkte Gren den linken Arm, von dem sich der abgetrennte Stengel des Wassermörders nur zögernd löste.
»Du bist noch ein kleines Kind«, zischelte Toy ihm zu, die gerade ein Jahr älter war.
Gren gab keine Antwort. Er würde ihnen eines Tages schon beweisen, daß er etwas ganz Besonderes war. Lily-Yo sagte plötzlich:
»Die Kinder werden jetzt alt genug. Wenn Flor und ich im Gipfel waren und Clats Seele bestattet haben, werden wir zurückkommen und die Gruppe auflösen. Die Zeit der Trennung ist gekommen. Und nun paßt auf euch auf.«
Sie grüßte noch einmal und machte sich dann mit Flor auf den Weg.
Betroffen sahen die Zurückbleibenden ihnen nach. Die Gruppe wurde aufgelöst. Die Zeit des Glücklichseins und der Sicherheit – sie war worüber. Vielleicht für immer. Die Kinder würden auf sich selbst angewiesen sein, bis sie später zu einer anderen Gruppe stießen. Die Alten aber würden sich auf ihre Reise in die Gipfel begeben, um von dort aus in das große Unbekannte und den Tod vorzustoßen.
2
An der rauhen Rinde ließ es sich leicht vorankommen. Für Lily-Yo und Flor war es so, als stiegen sie an mehr oder weniger regelmäßig gelagerten Felsblöcken in die Höhe. Mehrmals begegneten sie feindlichen Vegetationsarten, wurden aber leicht damit fertig. Es gab schlimmere Gegner, aber die Termiten hatten vor ihnen denselben Weg benutzt und mit ihnen aufgeräumt. Lily-Yo und Flor hielten sich dicht hinter dem Termitenzug.
Lange kletterten sie so, ehe sie eine Pause machten und sich auf einem Nebenzweig niederließen. Sie fingen zwei große Larven und verzehrten das weiche, ölige Fleisch. Einigemal hatten sie seitwärts Gruppen von Menschen gesehen. Die einen winkten ihnen scheu zu, die anderen nicht.
Sie waren auf einem Ast, der aus einem Stamm herauswuchs. Der Baum, sehr alt und das langlebigste Wesen dieser kleinen Welt, hatte Tausende von Stämmen. Vor langer Zeit, vielleicht vor zwei Millionen Jahren, hatte es viele Arten von Bäumen gegeben. Das hing vom Klima oder vom Boden ab. Dann wurde es immer wärmer. Die Bäume wuchsen, wurden größer und behinderten sich gegenseitig. Auf diesem Kontinent schaffte es der Feigenbaum, alle zu überleben. Er gedieh in der ständigen Hitze und verstand es, seine Luftwurzeln richtig zu benutzen. Jede Feige wurde größer als die vorherige; der Baum paßte sich den neuen Lebensbedingungen an. Er wurde höher und breiter, bis es ihm gelang, seine Äste und Luftwurzeln mit denen des benachbarten Baums zu verbinden und dort weiterwachsen zu lassen. So entstand in mittlerer Höhe ein Dickicht, durch das kein anderer Baum mehr hindurchstoßen konnte. Der Feigenbaum wurde der König des Waldes und zugleich unsterblich.
Der Kontinent, auf dem die Menschen lebten, wurde von einem einzigen Feigenbaum bedeckt – dem Wald. Tausende und aber Tausende mächtiger Stämme waren durch Äste und riesige Blätter miteinander verbunden und bildeten so ein großes Ganzes. Der Baum hatte Wüsten, Gebirge und Sümpfe besiegt. Nur von den breiten
Weitere Kostenlose Bücher