Ameisenroman
der Fluss Hochwasser führte, was bei küstennahen Flüssen wie dem Chicobee häufig vorkam, würden die kleinen Boote emporgehoben und sich frei bewegen, aber es war unwahrscheinlich, dass sie sichlosrissen und flussabwärts fortgetrieben würden, außer wenn die Flut besonders heftig ausfiel.
Junior stieg in eines der Boote und löste die Leine. Raff folgte ihm auf den Fersen. Im Boot sah er eine Sitzbank, an der zwei Riemen lehnten.
«Wem gehören die?», fragte er.
«Keine Ahnung.» Junior begann gerade, den Knoten am Festmacher zu lösen.
Raff fasste Junior am Arm. «Hey, warte mal! Wir können doch nicht einfach ein Boot stehlen. Da können wir ganz schön Ärger kriegen.»
«Reg dich ab, ja», erwiderte Junior. «Wer hat gesagt, dass wir es stehlen? Wir leihen es ja bloß. Wir nehmen es ganz mit runter zum Potomo Landing und lassen es da liegen. Der Besitzer kann es da einfach wieder abholen. Jeder weiß, wenn du hier ein Boot leihst, lässt du es am Potomo Landing liegen.»
Raff glaubte Junior nicht eine Sekunde lang. Er kannte seinen Cousin gut genug, um zu wissen, dass Junior hier gerade ein Boot stahl. Auch fragte er sich, wie jemand stark genug sein konnte, um auf einem Fluss wie dem Chicobee gegen die Strömung zu rudern, aber dann sah er, dass außer den Riemendollen am Heck des Bootes noch eine Halterung angebracht war, die einen Außenbordmotor tragen konnte. Sie hatten aber keinen Außenbordmotor. Wie wollten er und Junior das Boot zurückbringen?
Doch schließlich war es Raff egal. Er ließ sich von der Aufregung mitreißen. Wenige Meter weiter wurde der glitzernde Fluss tiefer, und das Chicobee-Monster konnte ganz nah sein. Wenn sie mit dem Boot erwischt wurden, überlegte Raff, konnte er immer noch sagen, dass Juniorbehauptet hatte, alles sei in Ordnung. Er war sichtlich jünger als Junior, konnte also die Schuld von sich schieben und ihn die Erklärung vorbringen lassen.
Junior hatte jetzt die Leine gelöst, das Boot war frei. Die beiden Jungen schoben und zogen es vom schlammigen Ufer ins flache Wasser. Dann stiegen sie über die Seite ein und begannen ihre Fahrt. Sie griffen nach den Riemen und richteten das Boot flussabwärts aus, immer möglichst nah am bewaldeten Flussufer. Niemand sonst war auf dem Fluss zu sehen, und weder von oben noch von unten hörte man Motorboote kommen.
«An einem normalen Tag bekommt man vielleicht zwei oder drei Angler zu sehen», sagte Junior. «Mein Dad war mal mit meiner Schwester und mir hier, und er sagt, das war schon immer so.»
«Wirklich seltsam.» Raff wunderte sich. «Es ist so schön hier, und bestimmt kann man gut angeln.»
«Schon», bestätigte Junior. «Aber es ist echt schwer, durch den ganzen Schlamm an diesen Teil des Flusses heranzukommen, und wenn das Wasser hoch steht, ist es echt schrecklich. Die Leute gehen lieber weiter unten auf den Fluss. Die meisten lassen den Chicobee ganz bleiben und fahren lieber weiter südlich zum Escambia. Da unten gibt’s auch viel mehr Anleger.»
Raff musterte den Wald am Ufer, so tief er hineinsehen konnte – er sah aus wie ein Urwald. Sie kamen an einer Fischerhütte vorbei. Der einzige, winzige Raum stand auf Pfählen über dem Wasser, und alles sah verlassen aus. Weiter unten baumelte ein Seil von einem überhängenden Ast eines riesigen Sumpf-Tupelos.
«Daran schaukeln Kinder raus und hüpfen ins Wasser», erklärte Junior.
«Aber wie kommen sie denn hierher? Ich sehe überhaupt keinen Weg.»
«Da muss eine Straße nah vorbeiführen. Entweder so, oder sie kommen mit dem Boot her.»
Buchstaben- und Schmuckschildkröten, so groß wie zwei Hände eines Erwachsenen, sonnten sich auf Baumstämmen und niedrigen Ästen. Sie glitten in das trübe Flusswasser, als das Boot näher als etwa fünfzehn Meter kam.
«Die schmecken nicht besonders», sagte Junior. «Aber sie lassen sich eh nicht fangen.»
Die Jungen kamen an einer Wasserschlange vorbei, die auf das Ufer zuschwamm. Ein Kanadareiher stand stocksteif am Rand einer Sandbank im seichten Wasser und wartete, dass ein Fisch vorüberschwamm. Über ihnen waren zwei Enten zu sehen, sie flogen dicht hintereinander mit raschen Flügelschlägen pfeilgerade flussabwärts. Ein Truthahngeier und ein Habicht mit ausgebreiteten Schwingen schraubten sich auf einem warmen Aufwind nach oben, waren aber so weit entfernt, dass man kaum mehr als ihre Umrisse erkennen konnte.
Zwei kleinere, habichtähnliche Vögel mit langen, gegabelten Schwänzen segelten am
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