Tochter der Insel - Historischer Roman
Prolog
Wangerooge, im Juli 1852
W enn er nun nicht kommt?« Rebekka biss sich auf die Lippen.
»Aber du warst dir gestern doch noch so sicher.« Lea griff nach der Hand ihrer Zwillingsschwester und drückte sie beruhigend. »Sei nicht so ungeduldig.«
Sie blickte zu dem alten Lederkoffer, in dem sich jetzt alles Hab und Gut ihrer Schwester befand. Rebekka hatte so viel wie möglich hineingestopft. Wer wusste schon, was sie in der Wildnis Amerikas alles brauchen würde. In ein Tuch eingeschlagen befanden sich Käse und Speck, ein Laib Brot und eine Flasche mit kaltem Tee. An einem Band um den Hals trug sie einen Beutel mit Geld.
Lea hatte ihrer Schwester geholfen, sich heimlich davonzustehlen, und nun musste sie sich von ihr verabschieden. Rebekka schaute mit angespanntem Gesichtsausdruck über die Dünen zum Strand.
Lea blickte zum Himmel und sah eine Möwe, die sich mit raschen Flügelschlägen Richtung Meer entfernte. Es gab ihr einen Stich, als sie den Vogel nicht mehr ausmachen konnte. Die Möwe war fort. Und das würde auch Rebekka bald sein. Sie vermisste die Schwester jetzt schon. Hoffentlich tat Rebekka das Richtige! Wie begeistert sie von dem Fremden gesprochen hatte. Aber was konnte sie schon über diesen Mann wissen, von dem nun ihr Schicksal abhing? War er wirklich der, für den Rebekka ihn hielt? Oder war dieser Sprung in die Freiheit, das Vertrauen in einen Fremden der größte Fehler ihres Lebens? Lea seufzte. Es war nicht ihre Entscheidung.
Ein lauter Ton durchschnitt die Stille.
Nervös knetete Rebekka ihre Hände. »Mein Gott, das Signalhorn gellt schon. Das Schiff wird bald fahren. Wo er nur bleibt?«
Mit zitternden Fingern schob sie sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn, doch der starke Wind griff erneut nach ihren Locken. Ihr herzförmiges Gesicht war bleich und bot einen starken Kontrast zu dem tiefschwarzen Haar. Die 17-jährigen Mädchen glichen einander wie ein Ei dem anderen. Als Kinder hatten sie Haarschleifen in unterschiedlichen Farben tragen müssen, damit man sie auseinanderhalten konnte. Doch wer sie näher kannte, der begriff schnell, dass sie so verschieden waren wie Feuer und Wasser. Lea ruhig und zurückhaltend, wohlüberlegt und bedächtig. Rebekka dagegen temperamentvoll, impulsiv und wagemutig.
Lea griff nach den Händen der Schwester. »Du solltest jetzt zum Strand gehen. Nicht, dass Großmutter dich noch im letzten Moment aufhält. Dein Liebster wird schon kommen.« In ihrem Lächeln lag ein Anflug von Trauer.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf die Reise freue! Gestern noch hat einer der Seeleute erzählt, dass es abends bei Musik und Wein immer gesellig zugeht. Diesmal wird keiner Großmutter zutragen, mit wem ich wie oft tanze.«
Lea strich ihr über den Arm. »Genieße deine neuen Freiheiten.«
»Das werde ich. Ach Lea, du wirst mir so sehr fehlen. Wir waren noch niemals voneinander getrennt.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich es aushalten soll ohne dich. Großmutter wird außer sich sein. Sie wird … « Lea verstummte. Rebekka sollte sich keine Vorwürfe machen müssen. Mochte die alte Frau auch noch so toben.
»Liebes, ich werde hart arbeiten und dir bald Geld für eine Fahrkarte schicken. Ich kann den Gedanken kaum ertragen, dass du hier zurückbleiben und dich weiterhin von Großmutter schikanieren lassen musst.«
»Ich werde es schon aushalten. Mir hilft der Gedanke, dass sie es im Grunde ja nur gut mit uns meint. Auf ihre Weise versucht sie, uns zu rechtschaffenen Menschen zu erziehen.«
»Auf diese Erziehung kann ich gut und gern verzichten.« Rebekkas Augen begannen zu leuchten. »Nicht lange, und du wirst mir nach Amerika folgen können. Es ist das Land der Freiheit, das Paradies auf Erden, in dem es weder Armut noch Unterdrückung gibt. Ich will nicht länger der Sündenbock einer verbitterten alten Frau sein. Keiner soll mich jemals wieder schlagen oder beleidigen. Niemand wird dort über meine dunkle Haut die Nase rümpfen.«
»Du musst jetzt wirklich gehen.« Lea schloss die Schwester ein letztes Mal in die Arme. Dann griff sie in die Tasche ihres Kleides, holte einen seidenen Beutel hervor und ließ ihn in die Hand ihrer Schwester gleiten.
»Mein Abschiedsgeschenk.«
Rebekka starrte ungläubig auf das Säckchen, in dem sich, wie sie beide wussten, eine Goldkette befand. Lea hatte sie vor langer Zeit nach einer Sturmnacht am Strand entdeckt.
»Aber du kannst doch nicht … «
»Nimm den Schmuck nur. Vielleicht
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