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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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Königsnatter! Sie sieht bloß so ähnlich aus wie eine Korallenotter. Hey, die ist überhaupt nicht giftig! Sie versetzt nur alle in Panik, und keiner lässt sich auf sie ein, weil alle panisch sind. Schaut euch die Bänderung an: rot, schwarz, gelb, schwarz, rot, schwarz, gelb, schwarz und so weiter. Korallenottern haben aber rot, gelb, schwarz. Könnt ihr Korallenottern und Königsnattern jetzt alle auseinanderhalten? Dann merkt euch die kleine Eselsbrücke: ‹Rot neben Schwarz, alles ist klar; Gelb neben Rot bringt dir den Tod!›»
    Keiner wagte sich vor, um die angeblich harmlose Königsnatter anzufassen. Die Mimikry, der Schutzmechanismus, den die Spezies seit Jahrtausenden benutzte,entfaltete wieder einmal ihre Zauberkraft, und die Rote Königsnatter kroch unbehelligt ihrer Wege.
    Am späten Nachmittag gelangten die sechzehn Mitglieder der Panther und Habichte mit Raff zurück auf die Lichtung zwischen Trailhead und der Straße zum Dead Owl Cove. Sie lümmelten sich auf dem Boden, während sie auf die Busse warteten, die sie heimbringen sollten, plapperten über Schlangengeschichten, die sie aufgeschnappt hatten und teilweise halbwegs glaubten – Riesenschlangen, giftspritzende Schlangen, Schlangen, die sich zu Reifen zusammenrollten, Schlangen, die einem auf Sicht nachjagten. Und über das Chicobee-Monster. Dann kamen sie auf den Football an der Nokobee Regional High School, die nächste große Naturwanderung, und für die wenigen, die damit prahlen konnten, auf Reisen in andere Bundesstaaten und ins Ausland. Da ein Erwachsener in Hörweite war, blieben Mädchen und Sex, gewöhnlich ihre Lieblingsthemen, unerwähnt.
    «Jesusmaria, schaut mal da!», unterbrach sie ein Pfadfinder und stand auf. Er zeigte auf Hunderte großer Ameisen, die eine kleine Echse Richtung Woodland-Hügel schleppten. Ein paar Meter weiter strömten Massen ihrer Nestgefährtinnen durch den Nesteingang hinein und heraus und rannten in einer Zickzacklinie zu der Gruppe mit der riesigen Beute. Einige drehten sofort um, nachdem sie die Echse erreicht hatten, und eilten Richtung Nest, offenbar wollten sie dem Rest der Kolonie von dem wunderbaren Fund berichten. Die Echse war verstümmelt, der Schwanz fehlte, und der Kopf war fast vom Körper abgetrennt.
    Wahrscheinlich hat die ein Sperber oder ein Louisianawürger gefangen und dann fallen lassen, dachte Raff.
    «Hey, in dem Nest muss ja eine Million von den Viechern wohnen.» Jetzt begannen die Pfadfinder, über Ameisen zu reden.
    Zehntausend, sagte Raff zu sich selbst. Er hatte sich abseits der Jungen auf einen kleinen Erdhügel gesetzt, der von horstartigen Gräsern und niedrigen krautigen Pflanzen umgeben war. Durch die Sumpfkiefern am Ufer konnte er gerade ein Stückchen vom Lake Nokobee erkennen. Die späte Nachmittagssonne, die sich vom Boden rund um ihn zurückgezogen hatte, beschien noch die Kronen der Sumpfkiefern und das offene Wasser auf dem See.
    Ein fernes Donnergrollen drang von Süden her durch den Wall von Bäumen hinter ihm, obwohl der Himmel direkt über ihnen, soweit er sehen konnte, wolkenlos war. Hier in der Golfküstenebene, am Rande der nordamerikanischen Subtropen, wechselte das Wetter ständig. In der Ferne, etwa dreihundert Meter über ihm, sah Raff mehrere Habichte und Geier, die lässig in der Luft kreisten. Sie schwebten auf den letzten thermischen Aufwinden des Tages, glitten mit steifen Flügeln spiralförmig nach oben, dann seitlich abwärts, um Strecke zurückzulegen. Dann fingen sie einen anderen Aufwind ein, ritten darauf aufwärts, dann wieder hinunter und weiter vorwärts. Zusammen sahen sie aus wie Blätter in einem Kessel mit kochendem Wasser. Es ging südwärts, es war die Zeit der Herbstwanderung. Sie flogen gemeinsam, nahmen aber darüber hinaus keine Notiz voneinander. Sie waren weder Freunde noch Feinde.
    Selten nur schlugen die Vögel mit den Flügeln. Die Luftströme, die sie wie durch Zauberei auf- und abwärts trugen, waren unsichtbar. Dem Kessel zuzusehen, wirkteauf Raff wie Hypnose. Er dachte, eine wie große Befreiung es wohl sein musste, auf unermüdlichen Flügeln mit ihnen südwärts zu reisen, das ruhige Gewässer des Golfs zu überqueren in irgendein unvorstellbares neues Land und eine Weile dort zu bleiben.
    Raff war sehr müde an diesem Abend, und seine Gedanken schweiften nach innen und wurden zur Träumerei. Die Stimmen der Jungen verschmolzen allmählich zu bedeutungslosem Geplänkel. Nur hin und wieder durchbrach ein lauteres

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