Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
ihn vor den Invasoren gerettet hatten. Bei dem Gedanken, was ihre Schwiegermutter ihr von Abdullahs rätselhaften Worten berichtet hatte, erschauerte Nefret unmerklich. Er hatte von Amun gesprochen …
Ich darf nicht abergläubisch und sentimental sein, schalt sie sich.
Ein Blick auf Sethos genügte, um solche Gedanken zu vertreiben. Sie hätte ihn nicht unbedingt als ein Gespenst der Vergangenheit bezeichnen mögen, dennoch hatte er keinerlei Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann, auch wenn er darauf bestanden hatte, einen Bart zu tragen. Kerzengerade, in einem besonders ungemütlichen Armlehnstuhl, verfolgte er das Geschehen mit völlig unbeteiligter Miene. Er sah weder zu Margaret noch sie zu ihm, obgleich sie unweit von ihm saß. Als er Nefrets forschenden Blick bemerkte, verzogen sich seine Lippen spöttisch, wie um die Sinnlosigkeit seiner Anwesenheit zu bekräftigen: der verlorene Sohn, das schwarze Schaf. Nicht einmal ihre patente Schwiegermutter, sinnierte Nefret, würde dieses Schaf wieder in die Herde zurücktreiben können.
»Was wird aus den beiden werden?«, fragte sie.
»Aus welchen beiden?« Ramses hatte Sennia beobachtet. »Oh. Die harte Nuss. Tante Margaret? Gott bewahre uns davor! Gleichwohl, er mag sie. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, an jenem Tag …«
»Ich wusste es schon vorher«, sagte Nefret triumphierend.
»Weil er sich ihr gegenüber so unmöglich verhalten hat?«
»Er hat sich in sie verliebt und das wollte er nicht«, erklärte Nefret. »Frauen sind eine solche Plage, habe ich Recht? Stets verlangen sie nach Aufmerksamkeiten, jammern herum und lassen sich umgarnen.«
»Dabei fällt mir Kipling ein«, murmelte ihr Gatte. »Poesie!«, schnaubte Nefret aufgebracht. Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn. Er erwiderte diesen innig und willig, und als sie sich voneinander lösten und sahen, dass seine Mutter sie – natürlich! – angetan lächelnd beobachtete, grinste er ihr zu und umschlang Nefret fester.
»Kipling hat weder dich noch Mutter kennen gelernt«, bemerkte er, ihre Hand an seine Lippen führend. »Sie deutet auf uns«, murmelte Nefret, als seine Lippen zärtlich ihre Handfläche und ihre Finger erforschten. »Ich denke, sie möchte, dass wir ein paar Lieder singen. Können wir nicht einfach verschwinden?«
»Mutter entwischen, wenn sie sentimentaler Stimmung ist? Sehr unwahrscheinlich. Beherrsche dich noch eine Weile, du schamloses Persönchen.«
»Da kenne ich wirklich keine Scham«, murmelte Nefret. »Und ich denke nicht, dass ich mich noch länger beherrschen kann, sollte sie den Meisterverbrecher dazu motivieren wollen, mit uns in einen jubelnden Chor von ›Vom Himmel hoch, da komm ich her‹ einzustimmen!
Gewiss würde selbst sie nicht erwarten …«
Sie erwartete es, und er schien zu verdutzt, um sich zu widersetzen. Oder vielleicht, so überlegte Nefret, gab es einen anderen Grund. Verblüfft stellte sie fest, dass er den gesamten Text beherrschte.
Am nächsten Morgen war Sethos verschwunden, Margaret ebenfalls. Trotz Emersons offensichtlicher Erzürnung vermutete Nefret, dass er am Verschwinden seines Bruders mitgewirkt hatte. Es wäre auch schwierig für das Paar gewesen, ohne die Hilfe Dritter fortzukommen.
Der Bart und Ramses’ bester Anzug wurden ebenfalls vermisst. Das Einzige, was sie in Sethos’ Zimmer fanden, war ein Päckchen, adressiert an Nefret. Es enthielt ein Armband mit einer Karneolplatte, in die kunstvoll ein Königspaar eingeritzt war.
»Amenophis der Dritte und Königin Teje«, sagte Ramses mit angehaltenem Atem. »Auch da hat er gelogen! Er hat ihre Juwelen gefunden!«
»Nett von ihm zu teilen«, sagte seine Mutter frostig.
Für sie hatte er nichts hinterlassen.
»Was glaubst du, hat er mit dem Rest der Juwelen gemacht?«, wollte Emerson wissen.
Wir waren in unserem Zimmer und stellten die Dinge zusammen, die wir an jenem Tag benötigen würden. Ich schlang meinen Utensiliengürtel um meine Taille.
»Er wird sie an einen betuchten Sammler verkaufen – er hat sich sicherlich eine gewisse Klientel aufgebaut – oder an ein Museum. Einige dieser Einrichtungen haben keine Skrupel, was den Ankauf gestohlener Artefakte angeht.«
»Hmhm.« Emerson nickte und warf mir einen schiefen Seitenblick zu. »Es hat mich irgendwie erstaunt, dass er es … äh … versäumt hat, dir etwas zu schenken.«
»Es war eine versteckte Geste der Höflichkeit von ihm, mein Schatz. Ein Beweis seiner veränderten Empfindungen für
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