Das Aktmodell
1. KAPITEL
P aris heute – ein Künstleratelier im Quartier du Marais
Das Modell
“Ich soll mein T-Shirt ausziehen?”
“Ja, Mademoiselle.”
“Auch meine Yoga-Hose?”
Er nickt. “Ja, Mademoiselle.”
“Einen kleinen französischen Augenblick mal”, protestiere ich und starre dabei auf den alten Maler, dem eine filterlose Gauloise aus dem Mundwinkel hängt, als wäre sie ein Teil von ihm. Er zieht daran, ohne dabei die Augen von meinem nassen T-Shirt zu nehmen, das an mir klebt wie ein Post-it.
“Ich habe mich hierher geflüchtet, weil es draußen in Strömen regnet, und nicht weil ich mich zu einem Kurs für Strip Aerobics anmelden wollte.”
Meine Stimme klingt heiser und kommt von ganz hinten aus dem Kehlkopf. Meine Güte, bin das ich? Das müssen die Nerven sein!
Ich hatte den gleichen Frosch im Hals und musste ein Pfefferminzbonbon lutschen, nachdem David – mein Ex-Verlobter – mir eröffnet hatte, dass ich lausige Blowjobs gebe und er deshalb unsere Hochzeit platzen lässt. Der Idiot.
Als ob das Durchfallen beim Fortgeschrittenentest für orale Befriedigung einer der zehn Top-Gründe dafür wäre, mich zur Therapie zu schicken und mir den Ärger meiner Mutter wegen der bereits bezahlten und nicht zu stornierenden Hochzeitsreise nach Paris auf den Hals zu schicken.
Aber jetzt bin ich hier und spaziere am rechten Ufer der Seine im Regen entlang. Ich fühle mich wie Jean Valjean in quietschnassen Nike-Turnschuhen. Sitzengelassen und unglücklich!
Und wundere mich, wie ich mich von diesem goldzüngigen David – der genau wusste, wie er meinen Startknopf mit ebendieser Zunge drücken konnte – nur dazu habe überreden lassen können, alles mit meiner Kreditkarte zu bezahlen.
Seit dem College habe ich mich halb zu Tode geschuftet, um die Karriereleiter nach oben zu klettern, und dabei habe ich meinen Traum einer eigenen Kunstgalerie erst mal auf Eis gelegt. Jetzt stehe ich nicht nur ohne einen Ehemann da, sondern muss meine mühsam zur Seite gelegten Ersparnisse dafür benutzen, die Kleider und farblich passenden Stilettos von Jimmy Irgendwem für meine zwölf Brautjungfern zu bezahlen. Ganz zu schweigen von den zweihundert Pfund erstklassiger Steaks.
Nachdem ich meine endlos überzogene Kreditkarte zerschnitten hatte, schüttete ich die letzte Flasche Champagner in mich rein und warf mein traumhaftes weißes
Vera Wang
-Satinkleid in die nächste Mülltonne. Am nächsten Morgen machte ich mich dann auf in das Geburtsland von
Godiva
-Schokolade, um den bitteren Nachgeschmack in meinem Mund etwas zu versüßen.
Und damit meine ich nicht, auf den Knien vor einem Typen zu hocken und an einem nach Himbeere schmeckenden Kondom zu lutschen. Ich denke eher an ein dramatisches, wundervolles, herzrasendes, vor Energie knisterndes Abenteuer. Ich will mich lebendig fühlen, begehrt.
Wem versuche ich hier eigentlich etwas vorzumachen? Ich möchte eine umwerfend schöne Sexgöttin sein!
Jugend und ein perfekter Körper sind nicht alles, wissen Sie.
Ha! Aber David denkt das. Aus diesem Grund liege ich jetzt auch nicht kuschelig an seinen Körper geschmiegt zwischen den seidigen Laken eines Pariser Hotels, sondern schleiche durch die Straßen wie eine Ratte durch das unterirdische Kanalisationssystem.
Du bist nicht jung, Mädchen, und du bist schon gar nicht schlank. Deshalb hast du David auch an diese Aphrodite verloren. Dünn wie ein Zahnstocher, noch nicht alt genug, um Alkohol zu trinken, aber dafür blond. Und auch noch deine Assistentin. Wie konntest du nur so dumm sein?
Dumm? Ich war völlig bescheuert, geisteskrank, eine komplette Idiotin, dass ich zugelassen habe, mir David von diesem Miststück wegnehmen zu lassen. Ich bin ganz klassisch verarscht worden.
Zisch! Wie zur Bestätigung schießt in diesem Augenblick ein Blitz durch die hohen, doppelt verglasten Fenster und trifft mich mitten ins Auge. Das Zimmer wird für einen Moment lang gespenstisch hell beleuchtet.
Ich blinzle einmal. Dann noch mal. Die Horrorfilm-Atmosphäre gruselt mich und bereitet mir eine Gänsehaut. Schlimmer kann es nicht mehr werden. Sturmwolken verdecken die Nachmittagssonne. Der strömende Regen trommelt gegen die Fenster. Donner kracht wie ein zu lauter Gettoblaster. Das alte Gebäude wird in seinen Grundfesten erschüttert. Ich zucke zusammen. Will ich
wirklich
wieder nach draußen in dieses Unwetter? Aus diesem Grund protestiere ich nicht, als der Alte mich auf eine Plattform scheucht, die im hinteren Teil
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