Amelia Peabody 13: Der Herr der Schweigenden
auch er hat seine Grenzen.
Vielleicht ist er inzwischen ebenfalls ein Gefangener, oder … Kuentz hat nichts zu verlieren. Ihm droht bereits die Todesstrafe.«
»Dann lassen wir ihn also davonkommen mit … wie vielen? Drei Morden? Vier?«
Schlagartig fiel mir etwas ein, was Nefret irgendwann einmal gesagt hatte. »Ist es falsch, jemanden so sehr zu mögen, dass nichts anderes mehr zählt?« Im Extremfall, wenn ein geliebter Mensch in Gefahr ist, sollte nichts anderes mehr zählen. Und bestimmt kein solches Abstraktum wie die Gerechtigkeit. Letztlich ist sie eine von menschlichem Ermessen getragene Definition.
»Ja«, erwiderte ich.
Statt einer Antwort entfuhr Emerson ein erstickter Schrei, er rannte los. Ich drehte mich um und sah sie kommen, Händchen haltend, das Sonnenlicht schimmerte auf Nefrets goldblondem Haar. Ich strebte auf sie zu, recht zügig, aber nicht im Laufschritt … Jedenfalls nicht sehr schnell.
Emerson hatte seine Tochter fest an sich gedrückt. Ich spähte zu meinem Sohn. Er lächelte mir zaghaft zu. »Bitte entschuldige mein grässliches Aussehen, Mutter.
Wir sind direkt hergekommen, weil wir dachten, du könntest … Mutter?«
Arme, Brust, Gesicht, Schultern, Hand … Ich gab den Versuch auf, seine Verletzungen zu zählen. »Wieder ein Hemd ruiniert«, murmelte ich und schlang meine Arme um ihn.
Der restliche Tag verlief etwas hektisch, mussten doch die Bewachung des Schreins sichergestellt, der Gefangene weggeschafft, die Verletzten behandelt werden und wir einander auf den letzten Stand bringen. Unserer feierlichen Versammlung in dem hübsch gestalteten Salon des Schlosses wohnte nur ein Teil der Gruppe bei. Sennia war bei Jumana, entzückt, eine weitere Kranke gefunden zu haben, der sie sich widmen konnte. Sethos hatten wir ins Bett verfrachtet und Margaret wachte über ihn – oder, mit anderen Worten, bewachte ihn. Was aus den beiden werden würde, wusste ich nicht, aber mir war seit einiger Zeit klar, dass er inzwischen, wenn nicht schon seit längerem, ein gewisses Interesse für sie hegte. Ich hatte William beauftragt, Daoud abzulösen. Meine zugegebenermaßen kurze Darlegung verwirrte ihn vollends, glaube ich, dennoch war er offensichtlich erfreut, eine solche Verantwortung tragen zu dürfen.
»Er leidet an fehlendem Selbstvertrauen«, erklärte ich, als Cyrus die Whiskygläser herumreichte. »Deshalb hat er sich so merkwürdig verhalten. Selbstzweifel führen zu Wahnvorstellungen und Schuldgefühlen. Es ist eine überaus bekannte psychologische Tatsache …«
»Ich will nichts davon hören«, brummte Emerson. »Ich auch nicht«, meinte Cyrus. »Wenn er will, werde ich Amherst einstellen; ich kann ihn brauchen. Aber ich möchte nicht über ihn reden. Also, worauf trinken wir als Erstes?«
Mein Blick schweifte durch den Raum – von Bertie, dessen fragende Miene weiterhin Verwirrung spiegelte; zu seiner Mutter, endlich ihrer Ängste enthoben; zu Ramses und Nefret, die Seite an Seite auf dem Sofa saßen und sich bei den Händen hielten; in Cyrus’ faltiges, lächelndes Gesicht und zu meinem geliebten Emerson, der nicht einmal zuhörte.
»Wie bitte?«, fragte er.
»Auf die Freunde und unsere Lieben«, schlug ich vor.
»Auf eine weitere wundersame Flucht«, setzte Cyrus hinzu.
»Daran war nichts Wundersames«, erklärte Emerson. »Gütiger Himmel, wir haben reichlich Erfahrung in diesen Dingen; einzig erforderlich sind Mut und Selbstbeherrschung, eine überragende Intelligenz, eine schnelle Auffassungsgabe, die Fähigkeit, prompt auf unverhoffte Ausnahmesituationen zu reagieren …«
»Und die Unterstützung unserer Freunde«, fügte ich bedachtsam hinzu.
»Ja, Ma’am«, platzte Bertie heraus. »Und ich finde es gar nicht nett, wenn ich das einmal zum Ausdruck bringen darf, dass Sie mich nicht …«
»Beim nächsten Mal werden wir auf Ihre Hilfe zurückgreifen«, sagte ich rasch.
»Wenn es ein nächstes Mal gibt«, ereiferte sich Bertie.
»Mit Sicherheit«, meinte Emerson. »Das war nie anders.«
»Aber nicht mehr in diesem Jahr«, sagte ich und nickte Katherine aufmunternd zu.
»Ich will es nicht hoffen«, brummte Emerson und sah mich durchdringend an – als wäre die ganze Sache meine Schuld gewesen! »Wir haben auch so genug zu tun. Wir werden noch ein paar Wochen bleiben müssen, Peabody – aber nicht hier«, setzte er hastig hinzu. »Möchte Katherines und Cyrus’ Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Können wir den armen alten Yusuf vertreiben –
Weitere Kostenlose Bücher