Amnion 3: Ein dunkler, hungriger Gott erwacht
Hinterfragen der Natur seiner Überzeugungen gegeben; immer öfter Anlaß, um zu überlegen, ob er inzwischen nicht doch seine Seele dem Drachen verkauft haben könnte. Wie sie jetzt so vor ihm saß, im Angesicht all seiner komplizierten Intentionen und Ausgeklügeltheiten, sehnte sie sich nach den einfachen Dienstpflichten zurück, die sie am liebsten schätzte, der klaren Entschiedenheit, die ihre Ganzheitlichkeit gewährleistete. Und dafür, daß er ihr all das nahm, hätte sie ihn nun hassen können.
»Ich bin ganz froh darüber, daß Sie diese Möglichkeit erwähnen«, entgegnete sie, sah von jedem Versuch ab, ihren Ärger zu verheimlichen; ihn vor Dios geheimzuhalten, wäre ihr ohnehin mißlungen. »Da fällt mir nämlich die Videokonferenz mit dem Konzil ein. Während meiner Unterredung mit Kapitän Vertigus habe ich mich andauernd gefragt, weshalb Sie sich eigentlich so aufgeführt haben. Warum nur? Niemals zuvor hatten Sie dem EKRK so ein Bild von sich vermittelt.« Oder mir. »Und ich bin nur auf eine einleuchtende Antwort gestoßen. Daß Sie’s getan haben, damit die Gesetzesvorlage gewisse Erfolgsaussichten erhält. Aber jetzt ist mir durch Sie eine andere Idee eingegeben worden.«
Sie brachte ihren Körper in die Balance der Allzeitbereitschaft, beließ ihn in dieser Haltung, als wäre sie eine auf Dios’ Kopf gerichtete Waffe. »Vielleicht haben Sie es getan, um sich einen Vorwand zu verschaffen, aus dem Sie mich möglichst schleunig zu Kapitän Vertigus schicken konnten… Um eine Gelegenheit zu bekommen, die beiden einzigen Menschen, die wirklich an die Notwendigkeit der Gesetzesvorlage glauben, aus dem Verkehr zu ziehen.«
Als sie verstummte, hämmerte ihr Herz, als ob sie fürchten müßte, fürs laute Aussprechen dieser Worte niedergeschmettert zu werden. Ihre Hände juckten nach Gewalt. Doch ihr Blick blieb unerschrocken; die Mündung ihres Vorwurfs zitterte nicht.
Für lediglich einen Sekundenbruchteil verzogen sich in Dios’ Gesicht die Muskeln; es konnte sein, daß er sich unwillkürlich zusammenkrampfte. Aber fast unverzüglich glätteten sich seine Gesichtszüge. Nur eine Andeutung von Kummer rings um seine Augen widersprach seiner Fassade des Gleichmuts.
»Ich bin der Meinung«, erwiderte er langsam, »wenn ich Ihren Tod wünschte – wenn ich die Sorte Mensch wäre, die ihre Probleme löst, indem sie Untergebene und Politiker liquidiert –, hätte ich auf etwas Ehrbareres als einen Kaze zurückgegriffen.«
Min hatte Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Er sprach nicht mehr so laut wie davor. Allein die allmähliche Erholung ihrer Trommelfelle ermöglichte es ihr, die verschwommenen Laute seiner Stimme zu deuten.
Etwas Ehrbareres als einen Kaze.
Kaum hatte er das gesagt, glaubte sie ihm. Das war der Warden Dios, den sie bewunderte; der Warden Dios, dem sie ihren Dienst widmete. Sie konnte sich unmöglich so viele Jahre hindurch in ihm getäuscht haben. Der Gedanke, er könnte hinter dem Kaze stecken, war ein pures Hirngespinst.
Sein ganzes Gerede hatte ausschließlich den Zweck, sie abzulenken.
Einen Moment lang war sie dermaßen verstimmt, daß sie kein Wort mehr zustandebrachte.
Aber Dios war nicht in Schweigen gesunken. »Haben Sie schon einmal daran gedacht«, fragte er so rhetorisch, als ginge es noch um dasselbe Thema, »daß vielleicht wir – ich meine, wir alle, die Polizei – für die Existenz solcher Einrichtungen wie Kassafort verantwortlich sind? Daß es vielleicht für die Menschheit besser wäre, wir hätten uns nicht soviel Macht angeeignet, oder uns weniger unentbehrlich gemacht?«
Min schluckte mühselig. Sie kannte ihn gut genug, um sich darüber im klaren zu sein, daß er darauf keine Antwort erwartete. »Das ist doch lachhaft«, widersprach sie trotzdem schroff, weil sie sich ärgerte. »Wir tragen keine Verantwortung für die kriminelle Karriere solcher Figuren wie Angus Thermopyle. Wir haben doch nicht die Amnion geschaffen. Aber gäbe es uns nicht, hätte die Menschheit keine Verteidigung.«
Ein Grimassieren verzerrte Dios’ Mundwinkel. »Da bin ich mir weniger sicher. Die Geschichte der Menschheit ist voller… man könnte sagen, voller obrigkeitlicher Irrtümer. Je stärkere Gewaltinstanzen man etabliert, um die Menschen zur Ordnung anzuhalten, um so mehr provoziert man ihre Ablehnung. Thermopyle und die Amnion sind wahrscheinlich gar kein schlechtes Beispiel. Ehe Thermopyle in unsere Hand fiel, stand er zwischen zwei Gefahren, zwei Gegnern, den
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