Amnion 3: Ein dunkler, hungriger Gott erwacht
Schau schrieb Lebwohl sich eine Notiz und reichte den Zettel scheinbar einer dem Konzil unsichtbaren ›nebenstehenden Assistentin‹; Min trat gefälligkeitshalber vor und nahm ihm den Wisch aus der Hand, setzte sich wieder.
»Ich bitte Sie, Vize-Konzilsdeputierte Carsin, haben Sie Geduld«, ermahnte Len die Frau. »Ich bin der Überzeugung, daß Polizeipräsident Dios und Direktor Lebwohl willens sind, auf jede und alle Fragen erschöpfende Auskunft zu erteilen. Es dürfte alles viel einfacher sein, wenn Sie abwarten, bis Sie an die Reihe kommen.«
Carsin schnitt ein mißmutiges Gesicht, als wäre ihr vor aller Öffentlichkeit eine Rüge ausgesprochen worden, und schenkte ihre Beachtung nun dem Computerterminal.
Len schlug in seinen Aufzeichnungen nach. »Lassen Sie uns die Bestandsaufnahme der Fakten vervollständigen. Ist es wahr, Direktor Lebwohl, daß Angus Thermopyle bei seiner Flucht durch einen ehemaligen Stellvertretenden Sicherheitsdienstleiter der KombiMontan-Station Beihilfe genossen hat, einen Mann mit Namen Milos Taverner?«
»Auch das entspricht vollauf den Tatsachen. In Anbetracht seiner verschärften Haft bezweifle ich ernsthaft, daß Kapitän Thermopyle jemals aus eigener Kraft die Flucht gelungen wäre. Ich möchte sogar behaupten, daß die Bezeichnung ›Flucht‹ im eigentlichen Sinn unzutreffend ist. Kapitän Thermopyle ist nicht entflohen. Er konnte unmöglich fliehen. Stellvertretender Sicherheitsdienstleiter Taverner hat ihn befreit.«
Vielleicht um den Anschein der Unparteilichkeit zu wahren, zog Abrim Len es vor, die nächste, naheliegende Frage nicht selbst zu stellen. Statt dessen nickte er dem Deputierten des Pazifischen Staatenbundes zu.
»Direktor Lebwohl«, begann der Mann mit fester Stimme, »wir tappen in dieser Angelegenheit im dunkeln. Wir wissen kaum, wo wir bei diesem unseligen Vorkommnis mit der Untersuchung anfangen sollen. Warum erzählen Sie uns nicht kurzerhand, anstatt einzelne Fragen abzuwarten, was wir alle gerne wüßten, nämlich: Wie ist das passiert?«
Für einige Sekunden verzerrte eine Statikstörung das Bild. In Wardens Schläfen verstärkte sich das Gefühl naher Migräne. Er widerstand dem Drang, sich die Augen zu reiben.
Dank seiner üblichen Geschicklichkeit schaffte Hashi Lebwohl es, bei der Beantwortung den Eindruck sowohl enormer Geduld wie auch weitgehender Leutseligkeit zu vermitteln. »Der Ablauf gibt uns keinerlei Rätsel auf, meine Damen und Herren. Als Stellvertretender Sicherheitsdienstleiter der KombiMontan-Station hatte Milos Taverner im VMKP-HQ gewisse dienstliche Berechtigungen und Vollmachten. Diese hat er mißbraucht, um Kapitän Thermopyles Freilassung und Einlaß an Bord eines Raumschiffs zu erwirken. Wegen der Art dieser Berechtigungen und Vollmachten ist nur eine rein routinemäßige Genehmigungsanfrage an mich ergangen. Als sie mir vorlag, befanden Kapitän Thermopyle und Stellvertretender Sicherheitsdienstleiter Taverner sich schon außerhalb unserer Reichweite.«
»Sie wissen genau«, sagte Vize-Konzilsdeputierte Carsin in gehässigem Tonfall, »daß die Frage gar nicht auf diese Einzelheiten abzielte. Uns den Ablauf der ›Befreiung‹ anzuhören, haben wir kein Interesse. Wäre Ihre Inkompetenz dermaßen offenkundig, hätte Polizeipräsident Dios Ihre Rübe schon rollen lassen.«
»Dann seien Sie doch bitte so freundlich«, röchelte Hashi Lebwohl, als wäre er Asthmatiker, »die Frage ein klein wenig genauer zu formulieren.«
»Wir wollen wissen«, antwortete Carsin, »wie diese ganze Situation überhaupt möglich geworden ist. Den Nachrichtensendungen zufolge« – sie deutete auf ihren Monitor – »hatten Sie Taverner aufgrund des Verdachts von der KombiMontan-Station kommen lassen, er könnte ein Verräter sein. Ja, zum Teufel, weshalb haben Sie ihm dann alle diese ›dienstlichen Berechtigungen und Vollmachten‹ nicht entzogen?«
Min Donners Emanationen glichen einem Zähneblecken. Der RÖA-Direktor strahlte ein Gemisch von Konzentration und Verängstigung aus.
Glaubwürdig mimte Hashi Lebwohl jemanden, der für Carsins Erklärung Dankbarkeit empfand. »Herzlichen Dank, Vize -Deputierte Carsin.« Hörbar betonte er den ersten Teil des Titels. »Jetzt verstehe ich die Frage. Allerdings müssen Sie verstehen, meine Damen und Herren, daß unser Verhältnis zu Stellvertretendem Sicherheitsdienstleiter Taverner keineswegs so unkompliziert gewesen ist, wie die Medien sie nachträglich darstellen. Ich glaube, keiner von
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