Amnion 5: Heute sterben alle Götter
später. Aus den Lautsprechern des Operativen Kommandozentrums ertönte ein durch Schubemissionen verursachtes Statikgeknister, als wäre eine Direktverbindung in unendliche Fernen und ödestes Vakuum hergestellt worden.
»Warden Dios«, durchdrang eine Männerstimme die Störgeräusche, »hier ist die Amnion-Defensiveinheit Stiller Horizont.« Die Stimme hatte einen sonderbar menschlichen und gleichzeitig vollkommen fremdartigen Klang. »Ich bin Marc Vestabule. Ich bin an Bord mit Entscheidungsbefugnis ausgestattet. Sie würden mich einen Kapitän nennen. Eröffnen Sie nicht das Feuer. Falls Sie es tun, vernichten wir Sie. Anhand Ihrer Scanningdaten können Sie ersehen, daß wir über die erforderlichen Machtmittel verfügen. Wahrscheinlich ist Ihre Einschätzung richtig. Voraussichtlich würden auch wir vernichtet. Aber während der Frist, die uns bis dahin bleibt, könnten wir Ihre Orbitalstation völlig zerstören. Außerdem würden wir die planetare Insel, auf der sich Ihr Regierungssitz befindet, mit unserem Superlicht-Protonengeschütz unter Beschuß nehmen und Ihren Raumschiffen und Orbitalstationen maximalen Schaden zufügen, solange es uns möglich ist. Eröffnen Sie nicht das Feuer auf uns, außer Sie wünschen den Tod zu finden.«
Die Übertragung endete mit einem Statikgeprassel. Das Rauschen heißer Partikel erfüllte das Kommando-Zentrum.
»Marc Vestabule ist ein menschlicher Name«, sagte Hashi Lebwohl überrascht.
Diese Eigentümlichkeit konnte auch Warden Dios schwerlich entgangen sein. »Sie meinen, die Amnion benutzen aus irgendwelchen Gründen menschliche Namen? Seit wann?«
»Nein.« Dank irgendeines Trugs der Wahrnehmung oder einer Täuschung hatte es für Dios den Anschein, als bediente Hashi Lebwohl eine Tastatur, ohne sich der Konsole genähert zu haben. Flink tippte er Tasten, betrachtete Anzeigen. »Nach der Stimmanalyse müßte er ein Mensch sein«, teilte er dem Polizeipräsidenten mit. »Wenn ein Amnioni menschliche Sprache spricht, treten charakteristische lautliche Verzerrungen auf. In diesem Fall fehlen sie. Offenbar ist Marc Vestabule körperlich ein Mensch. Zumindest hat er Kehle, Stimmbänder, Mund und Zunge eines Menschen. Lassen wir die Möglichkeit beiseite, daß die Amnion inzwischen aus der eigenen RNS komplette menschengleiche Wesen hervorbringen können« – Hashi Lebwohl zog seine Schlüsse –, »muß Marc Vestabule einmal einer von uns gewesen sein.« Warden Dios nickte. Eine interessante Einzelheit. Vielleicht hatte es einen Nutzen, darüber Bescheid zu wissen.
»Was meldet die Datenverwaltung?«
»Ich habe eine Anfrage eingegeben«, antwortete Lebwohl. »Infolge Zeitmangels dürfte die Auskunft wohl nicht allzu umfassend ausfallen. Allerdings…« Er senkte den Blick auf einen Monitor, rückte die Brille auf der Nase zurecht. »Aha«, nuschelte er zufrieden. »Der Name ›Marc Vestabule‹ ist in unseren Datenspeichern enthalten.« Hashi Lebwohl faßte zusammen, was er auf der Bildfläche las. »Er zählte vor einigen Jahren zur ordnungsgemäß angeheuerten Besatzung eines Raumfahrzeugs namens Süße Träume, einem Frachter, der Erz aus dem Asteroidengürtel innerhalb des dortigen Sonnensystems zur KombiMontan-Station lieferte. Bedauerlicherweise ist die Süße Träume spurlos verschollen, und mit ihr Marc Vestabule. Das Schicksal des Raumfrachters ist unbekannt, oder war es bislang. Jetzt hat es den Anschein, als ob er irgendwie ein Opfer der Amnion geworden wäre.«
Kurz schwieg der DA-Direktor. »Andere Abweichungen des Stimmprofils«, sagte er dann, »könnten die genetische Identität erkennen lassen. Ohne Bezugssystem ist aber keine Interpretation möglich. Eine Aufnahme seiner Stimme aus der Zeit vor der Mutation gäbe uns die Gelegenheit zu einem eindeutigen Vergleich. So vollständig ist unsere Datensammlung in diesem Fall leider nicht.«
Auch diese Einzelheit mochte sich als hilfreich erweisen; aber Warden Dios überging sie fürs erste. Er schaltete, indem er nochmals den Handrücken benutzte, das Mikrofon wieder ein.
»Stiller Horizont, hier spricht Warden Dios.« Mittlerweile kostete seine erzwungene Ruhe ihn weniger Anstrengung. Ob zum Guten oder zum Schlechten, das Warten war vorüber. Er hatte volle Handlungsfreiheit. »Da Sie einen Namen wie Marc Vestabule tragen, müssen Sie einmal ein Mensch gewesen sein. Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, daß unsereins eine Schwäche für Verheerungen hat. Manche von uns lieben sogar den Tod. Wenn
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