Amnion 5: Heute sterben alle Götter
gellte neben ihr Cleatus Fanes Stimme wie ein Alarmsignal. »Setzen Sie sich!«
Natürlich war er im Recht. Sie hatte nicht das Wort; durfte nicht einfach irgend etwas durch den Saal rufen. Außerdem war sie ohnehin längst gescheitert. Beklommen vor Scham machte sie Anstalten zum Hinsetzen… Aber ihr Körper blieb kurzerhand auf den Beinen. Ihre Gliedmaßen balancierten sich ins Gleichgewicht, als wäre sie eine Boxerin, hätte sie vor, jeden zu Boden zu schlagen, der ihr in die Quere kam. »Konzilsvorsitzender Len«, rief sie. »Bitte hören Sie zu!«
Hinter ihrem Rücken maulte Cleatus Fane bitterliche Flüche. Mehrere Konzilsdeputierte versuchten sie niederzuschreien. Sixten Vertigus hob den Kopf und warf ihr einen Blick müder Ratlosigkeit zu. Außer Abrim Len beachtete Koina niemanden; sie interessierte sich für nichts als sein Mienenspiel.
Du liebe Güte, was machte sie da? Jeden Moment wurde sie aus dem Saal gewiesen. Abrim Len blieb gar keine Wahl. Er hatte Fane den Hinauswurf angedroht; schon wünschenswerter Gleichbehandlung wegen, wenn aus keinem anderen Grund, mußte er sich nun dazu gehalten fühlen, die Drohung an ihr wahrzumachen.
Doch im ersten Augenblick war er wohl zu verdutzt, um die Störung zu tadeln. »Was soll ich hören?« fragte er völlig perplex.
Koina wußte es selbst nicht. Sie wußte überhaupt nichts.
Aber irgend etwas mußte sie wissen. Wie hätte sie sonst antworten können?
»Konzilsvorsitzender, ich habe einen Anruf Dr. Lane Harbingers im VMKP-HQ.« Trotz der Verwirrung klang ihre Stimme fest. »Sie arbeitet in der Abteilung Datenakquisition und möchte dem Regierungskonzil etwas mitteilen.«
Abrim Len stöhnte auf. »Direktorin Hannish, das geht nicht.« Seine Miene spiegelte Ärger, Bedauern und Abgeschlafftheit wider. »Wir sind mitten in einer Abstimmung, Herrgott noch mal.« Er bewegte den Mund, als wollte er etwas ausspeien, das einen ekligen Geschmack hatte. »Wir haben Ihnen gestattet, alles zu sagen, was Ihnen paßte, unabhängig von der Unerwünschtheit Ihrer Äußerungen. Nun müssen Sie uns die Abstimmung beenden lassen, solang uns noch Zeit bleibt.«
Zeit: Da lag das Problem. Koina mußte die Situation durchschauen, aber es gelang ihr nicht; ihr war die Zeit ausgegangen…
Auf einmal verstand sie die Lage.
Zeit. Natürlich. Der Zeitfaktor war Fanes Hauptargument: der Köder, den er benutzt hatte, um durchzudrücken, daß man seinen Vorschlag auf die Tagesordnung setzte und zur Abstimmung stellte. Wenn nicht er selbst, so hatte auf jeden Fall doch sein Boss daran höchstes Interesse, die Auflösung der VMKP durchzupeitschen, ehe das Rendezvous des Rächer-Kommando moduls mit der Stiller Horizont erfolgte.
In dieser Sekunde verflog Koina Hannishs Konfusion.
Nicht nur an Bord des Shuttles hatte sie gehört, daß Hashi Lebwohl Dr. Harbinger erwähnte. Auch während der letzten Besprechung mit Warden Dios, an der er, Koina und Sicherheitschef Mandich in einem der Büros des Polizeipräsidenten teilgenommen hatten, war ihr Name gefallen.
Lane Harbinger ermittelte hinsichtlich Nathan Alts.
Mit einem Schlag sah Koina, was sie außer acht gelassen hatte; erkannte das Argument, das sie sofort hätte anführen sollen.
»Es tut mir leid, Konzilsvorsitzender«, entgegnete sie mit Nachdruck. »Die Abstimmung ist unwichtig. Sie ist vollkommen bedeutungslos.«
Dem Konzilsvorsitzenden sackte das Kinn herunter. Maxim Igensard brabbelte Widerspruch. Mehrere Deputierte, die die Stimmabgabe schon hinter sich hatten, zeterten auf sie ein.
»Das hauptsächliche Argument, mit dem Mr. Fane die Notwendigkeit der Abstimmung begründet hat«, erklärte sie, während Cleatus Fane nach Luft schnappte, um seinen Einspruch hervorzudonnern, »lautet doch, daß Warden Dios unter Verdacht steht, ein Verräter zu sein, und wir jemanden, der des Verrats verdächtigt wird, in unserem Namen keine Abmachungen mit den Amnion treffen lassen dürfen, keine Vereinbarungen, die die Zukunft der ganzen Menschheit beeinflussen. Aber Warden Dios« – ohne die Stimme zu heben, traf sie die Feststellung dennoch mit einem Nachdruck, als schrie sie – »hat mit den Amnion gar keine Übereinkunft ausgehandelt. Vielmehr ist es durch Morn Hyland geschehen. Sie hat es selbst gesagt. Und sie wird’s auch weiterhin tun, egal, wer VMKP-Polizeipräsident ist oder wer der VMKP Befehle gibt. Sie haben es doch gehört.« Koina sprach mit beharrlicher Dringlichkeit. »Sie erkennt keine höhere Befehlsgewalt
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