Amokspiel
Zeugen, keine Beweise. Der Abschiedsbrief lag, in der Mitte gefaltet, auf der Bettdecke, die Kittys leblosen Körper zur Hälfte bedeckte.
»Aber das ergibt doch keinen Sinn mehr«, widersprach er. »Na gut«, willigte er schließlich ein, nachdem der Redeschwall des Anrufers wieder abgeklungen war. »Wenn Marius es so will.«
Der Killer trat näher an das Bett heran und öffnete Kittys linkes Auge.
Er tat, was ihm gerade befohlen worden war. Ihm sollte es nur recht sein. Sein Geld bekam er so oder so. Und es war viel Geld. So viel, dass man gerne auch etwas Nutzloses dafür tun konnte.
Nachdem er die ihm aufgetragenen Handlungen durchgeführt hatte, nahm er den Akku aus dem Handy und steckte sich die beiden Teile in die Hosentasche. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er mit leichten Schritten das Einzelzimmer. Sein Job für heute war erledigt.
38.
Kann man einem Menschen vertrauen, der gerade beabsichtigt, jemanden dem Tod auszuliefern? Ira schaute dem Hubschrauber nach, der sich immer schneller mit seiner reglosen Fracht von ihr entfernte, und versuchte, sich einzureden, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte.
»Sie kann nicht mit dir sprechen«, hatte Götz ihr erklärt. »Aber deine Tochter lebt noch.« Zum Beweis hatte er ihr sein Handy in ihre verkrampften Hände gelegt. Die Tastatur war mittlerweile blutüberzogen, so wie der Stofffetzen des Sweatshirts, den sie sich notdürftig um ihr Handgelenk gebunden hatte.
Hat er die Wahrheit gesagt?, fragte sie sich. Sehr wahrscheinlich nicht, war die naheliegende Antwort. Es war aus. Vorbei. Nur wollte sich jetzt, wo alles verloren war, leider keine resignierende Gleichgültigkeit mehr in ihr breitmachen. Nicht so wie heute Morgen. Aber auch das war jetzt egal. So oder so würde sie Kitty nicht mehr wiedersehen. Wenigstens hatte sie noch ein letztes Bild von ihr gesehen, auch wenn es von ihrem eigenen Mörder aufgenommen worden war. Sie wischte einen Regentropfen vom grünlich schimmernden Display und betrachtete die geöffneten Augen ihrer Tochter auf dem Digitalfoto. Ein zweiter Tropfen fiel, dann der nächste. Das schöne Wetter des schrecklichen Tages hatte ein Ende gefunden. So wie sie. Hier im Niemandsland. Und so wie Kitty. Denn dieses Bild bewies gar nichts.
»Siehst du, wie ihre Pupille auf den Blitz reagiert?«, hatte Götz sie angefleht, endlich aus dem Hubschrauber zu steigen. Der Killer hatte zwei Fotos geschossen und nacheinander per MMS auf Götz' Handy geschickt. »Zwei Aufnahmen, zwei unterschiedlich große Pupillen, siehst du?« Lächerlich. Ihr Kreislauf stand damals wie jetzt kurz vor dem finalen Zusammenbruch. Sie hatte in diesem Moment gar nichts mehr erkennen können.
Aber wenigstens in einem Punkt hatte sie Gewissheit erhalten, bevor sie von dieser Welt ging: Götz hatte sie nicht töten wollen. Nicht töten können. Sie war seine Achillesferse. Leider war sie ihm nicht zum Verhängnis geworden. Schließlich war Götz ebenso erstaunt wie sie selbst gewesen, dass sie am Ende doch noch ausgestiegen war. Aber wenigstens diese letzte Entscheidung ihres armseligen Lebens wollte sie selbstbestimmt treffen. Weder Götz noch Schuwalow sollte ihren Todeszeitpunkt festlegen dürfen. Dazu wollte sie alleine sein, so wie heute früh ursprünglich geplant.
Der Nieselregen wurde etwas dichter, und der Hubschrauber war am dunkler werdenden Himmel auf die Größe eines Tennisballs zusammengeschrumpft. Ira sah ihm nach und fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis Götz den leblosen Körper bei Leonis Vater ablieferte. Als sie Leonis Gesicht vorhin im Hubschrauber gesehen hatte, hatte sie der Schock der Erkenntnis beinahe gelähmt. Erst wollte sie es ihm sagen. Dann hatten sich die Ereignisse überschlagen, und jetzt sollte es ihre letzte Freude bleiben, dass sie Götz am Ende des Spiels die einfache Wahrheit verschwiegen hatte. »Nun denn«, sprach sie zu sich selbst. Sie atmete tief durch die Nase ein und fing ein letztes Mal den Geruch von nassem Gras ein, der sich mit dem staubigen Großstadtduft mischte. Das werde ich vermissen, dachte Ira. Viel ist es nicht, aber die Gerüche werden mir fehlen.
Ihre rechte Hand zitterte, und sie brauchte einige Sekunden, bis sie den Vibrationsalarm des Handys als Ursache ausmachte. Das unscharfe Foto ihrer Tochter war verschwunden und hatte dem Hinweis auf einen eingehenden Anruf Platz gemacht.
Unbekannter Teilnehmer Sie zuckte mit den Achseln.
Eine Cola light zum Abschluss wär mir lieber
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