Amokspiel
Es waren vier Stück. Harmlos, als wären sie nur Bonbons, lagen sie neben einer Flasche mit stillem Wasser. »Damit kommen Sie nicht durch«, protestierte Kitty. »Ich pass schon auf mich auf«, entgegnete der Mann mit dem Anflug eines Lächelns. Er gab ihr einen halb gefüllten Plastikbecher.
Kitty dachte fieberhaft nach, wie sie noch mehr Zeit herausschinden könnte. Ich hab mich gewehrt, wär ihm beinahe aus dem Badezimmer entkommen, habe den Brief so langsam wie möglich geschrieben. Was noch? »Aber ich habe doch gar nichts gesehen im Studio«, versuchte sie es ein letztes Mal. »Es gibt nichts, was ich verraten könnte.«
»Beeil dich!«, ignorierte er ihr Flehen. »Die Schonfrist ist abgelaufen.«
Kitty setzte sich mit zittrigen Beinen auf die Bettkante. Hinter dem Fenster sah sie eine dunkle Wolke aufziehen. Nun sterbe ich also mit einer doppelten Lüge, dachte sie mutlos. Während sie die ersten beiden Pillen nahm, musste sie an Saras letzten Brief denken. Den, den ihre Mutter nie gelesen hatte. Die beiden Zettel auf der letzten Stufe. Kitty war nur wenige Minuten vor ihrer Mutter in der Wohnung ihrer älteren Schwester eingetroffen und hatte ihn an sich genommen, bevor sie heimlich wieder gegangen war. Damit Ira niemals Saras wahre Beweggründe erfahren würde. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Kitty ausgerechnet heute ihre Meinung geändert hatte. Sie wollte es beichten. Sie wollte ihre Mutter besuchen und offen mit ihr über alles reden. Doch nun würde alles anders kommen. Jetzt würde sie ihr Wissen mit ins Grab nehmen und mit dem erpressten Abschiedsbrief eine weitere Lüge in die Welt setzen.
»Schneller.« Der Killer trieb sie an, und einen kurzen Moment fragte sich Kitty, warum sie ihm nicht einfach einen Grund zum Schießen gab. Dann wüsste ihre Mutter wenigstens über ihr wahres Schicksal Bescheid. Schließlich obsiegte der Selbsterhaltungstrieb und die in ihm begründete Hoffnung, vielleicht doch noch irgendwie mit dem Leben davonkommen zu können.
Die dritte Tablette verschwand in ihrem Mund. Sie lehnte den Kopf beim Schlucken in den Nacken. Ihr Blick fiel auf das zerschnittene Kabel mit der Notglocke. Auch das hatte sie in ihrem Brief erklärt. Sie selbst hätte es unbrauchbar gemacht, damit es kein Zurück mehr gab. Das seriöse Gesicht ihres Mörders verschwamm, bevor die vierte Pille auf ihrer angeschwollenen Zunge haften blieb. Es kostete sie eine unheimliche Kraftüberwindung, ihr Gesicht wegen des bitteren Geschmacks nicht zu verziehen.
Kitty verlor das Gleichgewicht und kippte seitlich auf das Bett. Ihre Augenlider besaßen nicht mehr die Kraft, sich gnädig zu schließen. Deshalb blieb ihr der Anblick nicht erspart, wie der Mann ihr mit einem Plastikband den Arm abband. Es dauerte nicht sehr lange, dann hatte er den geeigneten Ansatzpunkt für die Spritze gefunden.
35.
»Endstation.« Götz blieb auf seinem Pilotensessel sitzen. »Hier musst du aussteigen.«
Da er die Rotoren nicht abstellte, vermutete Ira, dass er ohne sie weiterfliegen wollte. Ganz sicher hatte er vor dem Start bereits den Transponder zerstört, mit dem man den Hubschrauber orten konnte. »Nein, das werde ich nicht.«
Sie ekelte sich, ihm ins Gesicht zu sehen, während sie mit ihm sprach. Ira griff mit der bloßen Hand in die zersplitterte Plexiglasscheibe und brach einen großen Splitter heraus.
»Was hast du vor? Das Spiel ist aus.«
»Ist es nicht.« Ira überwand ihren Abscheu und sah Götz nun doch direkt in die Augen. Für die Verzweiflungstat, die sie plante, benötigte sie den direkten Blickkontakt. »Ich bin Unterhändlerin, schon vergessen? Also werde ich nicht aufgeben, sondern dir ein Geschäft vorschlagen.«
Götz lachte ungläubig auf.
»Du bist unglaublich, Ira. Worüber sollen wir denn jetzt noch verhandeln? Du bist völlig machtlos. Du hältst keinen Trumpf mehr in deinen Händen.«
»Doch, den hier!«
Ira zeigte ihm die scharfkantige Plexiglasscherbe, und Götz lachte nur noch lauter.
»Was soll das ? Meine halbe Schulter ist aufgerissen. Glaubst du wirklich, da hab ich Angst vor einer Glasscherbe?«
»Kommt drauf an, wo ich sie ansetze«, sagte Ira und schnitt sich ihre Pulsadern auf.
36.
»Verdammt, was tust du da?«, schrie Götz entgeistert. Das Blut strömte aus Iras linkem Arm. Sie hatte sich längs entlang der Ader geschnitten und nicht quer, wie die neunzig Prozent aller Selbstmörder, bei denen der Versuch fehlschlug, weil sie damit nur die Beugesehnen
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