Amokspiel
Verhältnis mit meinem Mitbewohner eingelassen hast, war weder die Ursache noch ein Anlass für das, was ich gleich tun werde.
Iras Konzentration wurde ausgerechnet an dieser Stelle durch das nervtötende Telefonklingeln gestört. Jetzt, wo sie endlich erfuhr, warum dieser Brief nicht auf der obersten Stufe gelegen hatte. Kitty musste vor ihr in Saras Wohnung gewesen sein und ihn an sich genommen haben. Ira schluckte und fühlte, wie sich ihre innere Leere mit einer fast brennenden Schwermut füllte. Das erklärt auch ihre plötzliche Wut auf mich, dachte sie. Kitty hatte Saras Absolution nicht annehmen wollen. Sie fühlte sich weiterhin schuldig durch den Betrug an ihrer Schwester. Aus Scham versteckte sie den Brief. Schließlich projizierte sie ihre eigenen Schuldgefühle auf eine andere Person. Auf ihre eigene Mutter.
Wie Recht du gehabt hast, Sara, dachte Ira. Wir haben alle etwas gemeinsam. »Ich geh schon!«
Das Telefon läutete immer noch hartnäckig. Diesel atmete schwer, als er in die Küche humpelte, um dort das Gespräch entgegenzunehmen. Iras altmodischer, cremefarbener Apparat war noch von der deutschen Bundespost und sogar noch mit einer Wählscheibe ausgestattet. Er hing direkt neben dem Kühlschrank. »Ich höre 101Punkt5, und jetzt spring aus dem Fenster, wenn es nichts Wichtiges ist«, hörte sie Diesel in den Hörer rufen. Dann wurde es still. Als er nach einer Minute immer noch schwieg, zuckte Ira mit den Achseln. Verwählt.
Sie zog beide Beine an und saß nun im Schneidersitz auf dem Stuhl vor ihrem alten Esstisch. Mit schweißnassen Händen griff sie sich die nächste Seite.
Sie sind ein guter Psychologe, Dr. May, auch wenn mein Verhalten Ihnen sicherlich nicht die beste Visitenkarte ausstellen wird. Sie lagen hundertprozentig richtig mit Ihrer Vermutung. Ich habe Ihren dringenden Rat befolgt. Danke noch mal für die Empfehlung, mir eine Überweisung zu besorgen. Die Kernspinuntersuchung bestätigte den Verdacht einer organischen Ursache für meine wachsenden Depressionen und lehrte mich ein neues Wort: Glio-blastom. Kitty, wenn du es im Internet als Suchbefehl eingibst, wirst du deine Trefferquote erhöhen, wenn du es mit den Schlagworten >Hirntumor<, >in-operabel< und >tödlich< kombinierst. Ihr anderen wisst, dass die meisten daran spätestens nach einem Jahr sterben. Eine Chemotherapie führt nur zu einer Verlängerung des Leidens, und eine Operation ist bei mir unmöglich, weil die Tumorzellen das gesamte Gehirngewebe zu durchdringen scheinen.
So, und nun? Jetzt kennt ihr alle den Grund, warum meine ohnehin schon angeschlagene Persönlichkeit sich zuletzt immer stärker veränderte. Ich liefere euch sogar eine nachvollziehbare Begründung für meinen Selbstmord. Ich will nicht warten, bis ich ohnmächtig am Küchentisch zusammensinke und meine rechte Körperhälfte nicht mehr bewegen kann. Ich habe keine Lust zu erleben, wie ich wildfremden Menschen hilflos ausgeliefert bin, während ich im Vierbettzimmer eines öffentlichen Krankenhauses langsam sterbe.
Als ich mir den Beipackzettel von den Medikamenten durchlas, die mir die Neurologin verschrieben hatte, konnte ich keine andere Entscheidung treffen. Sicher, Mama, für Dich wird es am schlimmsten sein. Es ist immer grauenhaft, wenn das Kind vor den Eltern geht, sagt man. Aber wie schlimm wäre es für Dich, wenn Du mir die kommenden Monate beim Sterben zusehen müsstest? Und wie entsetzlich für mich ? Nenn mich egoistisch, aber ich besitze nicht die Kraft, um meine und Deine Schmerzen gleichzeitig auszuhalten. Es tut mir leid. Ich muss handeln, solange ich meine Symptome noch im Griff habe.
Die warme Hand auf ihrer Schulter schnitt sich durch ihr T-Shirt wie ein Brandeisen in ihre Haut. Trotzdem freute sich Ira über Diesels Berührung. Ihr war völlig schleierhaft, wie er es durchs Wohnzimmer geschafft hatte, ohne dass sie dabei die knarrenden Dielen gehört hatte.
»Wer war denn dran?«, schluchzte sie und verstand selbst kein einziges Wort, das aus ihrem Mund kam. Ein Zittern lief durch ihren gesamten Körper.
Statt einer Antwort begann er, sanft ihren Nacken zu massieren.
»Ich lass dich jetzt besser alleine«, flüsterte er nach einer Weile.
»Ja«, sagte sie, griff aber gleichzeitig nach hinten und drückt e seine Hand wieder zurück auf ihre Schulter. Er blieb stehen. Und sie lasen die letzten Zeilen gemeinsam.
So, nun aber genug der langen Vorrede. Hier kommt er endlich: Mein letzter Wille: Dr. Jan May, Ihnen vermache
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