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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
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    Retra presste die Finger auf den Oberschenkel. Der heftige Schmerz, den der Gehorsamkeitsstreifen ausgelöst hatte, wurde schwächer. Sie spürte nur noch ein gleichmäßiges Pochen und Übelkeit. Vielleicht war ja jetzt, da sie vom Gelände runter war, das Schlimmste vorbei.
    Sie warf einen Blick zurück. Alles war still. Keine Schreie, keine Lichter, die ihr folgten. Wie eine graue Festung erhob sich der rostige Maschendrahtzaun, der die Seal-Enklave von Grave trennte, in der Dunkelheit. Und sie war drübergeklettert.
    Schmerz kann man ignorieren.
    Das hatte ihr Bruder Joel zu ihr gesagt, nachdem Vater ihn einmal geschlagen hatte. Es war das, was in Retras Erinnerung am deutlichsten haften blieb, nachdem er nach Ixion durchgebrannt war. Der Gedanke gab ihr Hoffnung. Schmerz war kontrollierbar. Dann würde sie ihm folgen können.
    Also hatte sie trainiert. Hatte stundenlang den Arm verdreht oder sich etwas Scharfes in die Haut gebohrt. Trainiert, weiterhin zu denken und zu handeln, und zwar trotz des Schmerzes.
    Und jetzt war der Zeitpunkt gekommen.
    Die Fähre wartete an der alten Hafenrampe, an die die Schlepper die Kohleschiffe brachten. Dort unten in den schmutzigen, rattenverseuchten Straßen des Frachthafens konnte sie untertauchen.
    Auch andere näherten sich, während sie durch die Straßen der Stadt bis hinunter zum Wasser lief. Sie hörte ihre Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster, und dann schnelle, schwere Atemzüge in der feuchten Luft. Sie rannten, genau wie sie.
    Verpass es nicht! Es ist da!
    Die Fähre kam zweimal im Jahr, heimlich im Dunkel der Nacht, um die Unzufriedenen nach Ixion zu bringen. Niemand weiß, wann es kommt. Deswegen können die Ältesten auch nichts dagegen tun. Das Konfetti fällt. Wir lesen es, aber nur wir kennen den Code.
    Was für ein Code?, hatte Retra gefragt. Ich kenne keinen Code.
    Die Angel Arias sind der Code.
    Was ist Ixion?, hatte sie ihn gefragt.
    Er hatte sein Gesicht an ihres geschmiegt und geflüstert, damit die Eltern sie nicht hörten. Stell dir einen Ort vor, an dem es keine Ältesten gibt. Keine Regeln. Keine Strafen. Nur Musik, Spaß und Freiheit. Das ist Ixion, Retra. Da gehöre ich hin.
    Bald danach war er weggelaufen und hatte sie allein gelassen.
    Kalter Nebel leckte über Retras Gesicht, doch sie spürte es kaum. Der Schmerz war zurück. Das Pochen zwang sie stehen zu bleiben. Sie schnappte nach Luft, krümmte sich, taumelte ein paar Schritte und rannte dann weiter, hielt sich am Rande der Straße, um die anderen vorbeizulassen.
    Sie durfte jetzt nicht anhalten. Wenn Vater sie hier fand, würde er sie bewusstlos schlagen. Für Ausreißer nach Ixion gab es keine Vergebung, wenn sie gefasst wurden. Nur Schimpf und Schande.
    Doch als das Pulsieren nun ihr Bein hinaufkroch und bis in ihren Bauch ausstrahlte, war ihr, als würde sich die ganze Umgebung zusammenziehen. Die verfallenen Gebäude kippten auf sie zu, die Pflastersteine wurden zu groß und zu uneben, als dass man das Gleichgewicht darauf halten konnte.
    Wieder blieb sie stehen und strich den Schleier zur Seite, um besser Luft zu bekommen. Vor ihr lag die Fähre. Bunte Lampen an schwankenden Ketten erhellten ihre Umrisse. Sie musste es nur noch über die Straße zur Rampe schaffen. Mehr nicht.
    Ein Fuß. Dann der andere. Ein Fuß. Dann der andere.
    Über die menschenleere Straße.
    Doch als ihre Stiefel den Sand berührten, sprang der Schiffsmotor an, und die Zugbrücke hob sich bereits.
    Wartet … bitte wartet …
    Ohne auf den lähmenden Schmerz zu achten, rannte sie die letzten Schritte und machte einen großen Satz auf das Tor zu, während es sich schloss. Wenn sie jetzt zu kurz sprang, bedeutete das ihren Tod: Das eiskalte, dunkle Wasser würde ihren Körper, der dann von den Kleidern schwer geworden war, in die Tiefe ziehen.
    Aber wenn sie zu kurz sprang, dann war es vielleicht ohnehin besser zu sterben.
    Ihre Arme schlugen auf die Kante der Zugbrücke, doch ihre Finger fanden keinen Halt, und schon rutschte sie ab.
    Nein!
    Plötzlich zogen sie starke, kalte Hände in die Höhe und auf das sichere Schiff. Doch der kurze Moment der Erleichterung war sofort vorüber, als sie zu ihrem Retter hochstarrte. Leichenblass, kalte Augen, langes, fließendes Haar, schwärzer als die Nacht, durch die sie hierhergerannt war, ein hageres Gesicht, Haut, die sich so straff über den Knochen spannte, als sei es der Schädel, der darunter hervortrat.
    »Willkommen an Bord unseres Schiffes nach Ixion, Insel der

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