Amokspiel
glauben? Warum weint sie? Und weshalb klopft sie an der Tür?
Er hatte ihr heute Vormittag den Wohnungsschlüssel per Boten in die Steuerkanzlei geschickt, in der sie als Aushilfssekretärin arbeitete. Zusammen mit dem Hinweis, sie möge die Frankfurter Allgemeine auf Seite zweiunddreißig aufschlagen. Dort war eine Anzeige abgedruckt, die er aufgegeben hatte: die Wegskizze zu seinem Appartement.
Aber selbst wenn sie den Schlüssel vergessen haben sollte. Wie konnte sie - wie konnte irgendjemand - nach oben gelangt sein, ohne dass der Portier vom Empfang ihm Bescheid gab?
Er öffnete die Tür, und die Antworten blieben aus. Stattdessen kam eine weitere Frage hinzu, denn der Mann, der vor ihm stand, war ein völlig Fremder. Seiner äußeren Erscheinung nach schien er keine große Zuneigung zu Fitnessstudios zu haben. Sein Bauch blähte ein weißes Baumwollhemd so weit nach vorne, dass man nicht sehen konnte, ob er einen Gürtel trug oder ob die fadenscheinige Flanellhose von seinen Speckrollen getragen wurde. »Entschuldigen Sie die Störung«, begann dieser und fasste sich dabei verlegen mit Daumen und Mittelfinger seiner linken Hand an beide Schläfen, als stünde er kurz vor einer Migräneattacke.
Später konnte er sich nicht mehr erinnern, ob sich der Unbekannte überhaupt vorgestellt oder sogar eine Marke gezeigt hatte. Doch schon dessen allererste Worte klangen so routiniert, dass er sofort verstand: Dieser Mann drang aus beruflichen Gründen in seine Welt, als Polizist. Und das war nicht gut. Gar nicht gut. »Es tut mir sehr leid, aber .«
O Gott. Meine Mutter? Mein Bruder? Bitte lass es nicht meine Neffen sein. Er ging im Geiste alle möglichen Opfer durch. »Sind Sie bekannt mit einer Leoni Gregor?« Der Kriminalpolizist rieb sich mit kurzen, dicken Fingern seine buschigen Augenbrauen, die im starken Kontrast zu seinem fast kahlen Schädel standen. » Ja .«
Er war zu verwirrt, um seine wachsende Angst zu spüren. Was hatte das Ganze hier mit seiner Freundin zu tun? Er sah auf den Hörer, dessen Display ihm versicherte, dass die Verbindung weiterhin gehalten wurde. Aus irgendeinem Grund kam es ihm vor, als ob sein Telefon in den letzten Sekunden schwerer geworden wäre. »Ich bin so schnell wie möglich gekommen, damit Sie es nicht aus der Abendschau erfahren müssen.«
»Was denn?«
»Ihre Lebensgefährtin . nun, sie hatte vor einer Stunde einen schweren Autounfall.«
»Wie bitte?« Eine unglaubliche Erleichterung durchströmte seinen Körper, und er merkte erst jetzt, wie sich die Furcht in ihm aufgestaut hatte. So also musste sich j emand fühlen, der vom Arzt angerufen wird und die Mitteilung bekommt, man habe sich geirrt. Alles wäre in Ordnung. Man hätte die HIV-Teströhrchen nur vertauscht.
»Soll das ein Scherz sein?«, fragte er halb lachend, worauf der Polizist ihn verständnislos ansah. Er hob den Hörer ans Ohr. »Schatz, da will jemand mit dir sprechen«, sagte er. Doch kurz bevor er dem Polizisten den Hörer reichen wollte, hielt er noch einmal inne. Irgendetwas stimmte nicht mehr. Etwas war anders. »Schatz?«
Keine Antwort. Das störende Zischen war plötzlich wieder genauso stark wie zu Beginn des Telefonats. »Hallo? Süße?« Er drehte sich um, steckte den Zeigefinger seiner freien Hand in sein linkes Ohr und durchquerte mit schnellen Schritten sein Wohnzimmer in Richtung der Fenster.
»Hier ist der Empfang besser«, sagte er zu dem Polizisten, der ihm langsam in die Wohnung gefolgt war.
Doch das erwies sich wieder als Irrtum. Im Gegenteil.
Jetzt hörte er gar nichts mehr. Kein Atmen. Keine sinnentleerten Silben. Keine Satzfetzen. Noch nicht einmal mehr ein Rauschen. Nichts.
Und zum ersten Mal begriff er, dass Stille Schmerzen hervorrufen kann, wie es der größte Lärm nicht vermag. »Es tut mir sehr, sehr leid für Sie.«
Die Hand des Polizisten lastete auf seiner Schulter. Im Spiegelbild der Panoramafenster sah er, dass der Mann bis auf wenige Zentimeter an ihn herangetreten war. Wahrscheinlich hatte er damit Erfahrung. Mit Menschen, die bei der Überbringung der Nachricht zusammenklappten. Und deshalb stellte er sich so unmittelbar in seine Nähe, damit er ihn auffangen konnte. Buchstäblich für den Fall des Falles. Doch dazu würde es nicht kommen. Nicht heute. Nicht bei ihm.
»Hören Sie«, sagte er und drehte sich um. »Ich erwarte Leoni in zehn Minuten zum Abendessen. Ich habe gerade eben, kurz bevor Sie an meine Tür klopften, mit ihr telefoniert. Eigentlich
Weitere Kostenlose Bücher