Amokspiel
telefoniere ich noch in diesem Moment mit ihr und .«
Während er den letzten Satz sprach, reflektierte er bereits darüber, wie er sich anhören musste. Schock, wäre seine eigene Diagnose, würde man ihn als neutralen Psychologen fragen. Aber er war heute kein Neutrum. Er war in diesem Augenblick die unfreiwillige Hauptperson des Schauspiels. Der Blick in die Augen des Polizeibeamten raubte ihm schließlich die Kraft zum Weitersprechen. Glaub nicht, was sie dir sagen ...
»Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Lebensgefährtin, Leoni Gregor, vor einer Stunde auf dem Weg zu Ihnen von der Fahrbahn abgekommen ist. Sie prallte gegen eine Ampel und eine Häuserwand. Wir wissen noch nichts Genaueres, aber offenbar fing der Wagen sofort Feuer. Es tut mir leid. Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun. Sie war sofort tot.«
Später, als die Beruhigungsmittel langsam ihre Wirkung verloren, kämpfte sich die Erinnerung an eine frühere Patientin in sein Bewusstsein, die einst ihren Kinderwagen vor der Tür einer Drogerie abgestellt hatte. Sie wollte schnell eine Tube Sekundenkleber kaufen. Für den lockeren Absatz ihrer hochhackigen Schuhe. Da es kalt war, deckte sie ihren fünf Monate alten David gut zu, bevor sie das Geschäft betrat. Als sie drei Minuten später wieder herauskam, stand der Kinderwagen noch vor dem Schaufenster. Doch er war leer. David war verschwunden und blieb es für immer.
Während seiner Therapiegespräche mit der seelisch gebrochenen Mutter hatte er sich oft gefragt, was in ihm selbst wohl vorgegangen wäre. Was er empfunden hätte, wenn er damals die Decke vom Kinderwagen zurückgeschlagen hätte, unter der es so merkwürdig ruhig war. Er war immer davon ausgegangen, dass er den Schmerz der Frau niemals im Leben würde nachvollziehen können. Seit heute wusste er es besser.
I.Teil
Acht Monate später. Heute.
Im Spiel verraten wir, wes Geistes Kind wir sind.
Ovid
1.
S alzig. Der Lauf der Pistole in ihrem Mund schmeckte unerwartet salzig.
Komisch, dachte sie. Ich bin früher nie auf die Idee gekommen, mir einmal meine Dienstwaffe in den Mund zu stecken. Nicht mal zum Spaß.
Nachdem die Sache mit Sara passiert war, hatte sie oft darüber nachgedacht, bei einem Einsatz einfach loszulaufen und ihre Deckung preiszugeben. Einmal war sie ohne Schutzweste, völlig ungesichert auf einen Amokläufer zumarschiert. Aber noch nie hatte sie sich ihren Revolver zwischen die Lippen gesteckt und wie ein kleines Kind daran genuckelt, während ihr rechter Zeigefinger zitternd auf dem Abzug lag.
Nun, dann war heute eben die Premiere. Hier und jetzt in ihrer verdreckten Kreuzberger Wohnküche in der Katzbachstraße. Sie hatte den ganzen Morgen den Fußboden mit alten Zeitungen abgedeckt, so, als ob sie renovieren wollte. In Wahrheit wusste sie, welche Sauerei eine Kugel anrichten konnte, die einem den Schädel zerschmettert und Knochen, Blut sowie Teile des Gehirns in einem vierzehn Quadratmeter großen Raum verteilt. Wahrscheinlich würden sie für die Spurensuche sogar jemanden schicken, den sie kannte. Tom Brauner oder Martin Maria Hellwig vielleicht, mit dem sie vor Jahren auf der Polizeischule gewesen war. Egal. Für die Wände besaß Ira keine Kraft mehr. Außerdem waren ihr die Zeitungsseiten aus-gegangen, und eine Plastikplane besaß sie nicht. Also saß sie jetzt im Reitersitz auf dem wackligen Holzstuhl mit dem Rücken zur Spüle. Die laminierte Schrankwand und die Metallspüle konnten nach der Spurensicherung leicht mit einem Schlauch abgespritzt werden. Und viel zu sichern gab es sowieso nicht. Alle Kollegen konnten sich an drei Fingern abzählen, warum sie heute einen Schlussstrich zog. Der Fall war eindeutig. Nach dem, was ihr passiert war, würde niemand ernsthaft auf die Idee kommen, hier läge ein Verbrechen vor. Daher machte sie sich gar nicht erst die Mühe, einen Abschiedsbrief zu schreiben. Sie kannte auch niemanden, der Wert darauf legen würde, ihn zu lesen. Der einzige Mensch, den sie noch liebte, wusste ohnehin besser Bescheid als alle anderen und hatte das im letzten Jahr überdeutlich zum Ausdruck gebracht. Durch Schweigen. Seit der Tragödie wollte ihre jüngste Tochter sie weder sehen, sprechen noch hören. Katharina ignorierte Iras Anrufe, ließ ihre Briefe zurückgehen und würde wahrscheinlich die Straßenseite wechseln, wenn sie ihrer Mutter begegnete. Und ich könnte es dir nicht einmal verübeln, dachte Ira. Nach dem, was ich getan habe.
Sie öffnete die
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