Amokspiel
Augen und sah sich um. Da es eine offene amerikanische Küche war, konnte sie von ihrem Platz aus das gesamte Wohnzimmer überblicken. Würden die warmen Sonnenstrahlen des Frühlings nicht so unsagbar fröhlich auf die ungeputzten Fensterscheiben knallen, hätte sie sogar noch einen Blick auf den Balkon und den dahinter liegenden Viktoriapark werfen können. Hitler, schoss es Ira Samin durch den Kopf, als ihre Augen im Wohnzimmer an ihrer kleinen Bücherwand hängen blieben. Sie hatte während der Ausbildung bei der Hamburger Polizei ihre Doktorarbeit über den Diktator geschrieben. »Die psychologische Manipulation der Massen«. Wenn der Irre eine Sache richtig gemacht hat, dachte sie, dann seine Selbsthinrichtung im Führerbunker. Er hatte sich ebenfalls in den Mund geschossen. Doch aus Angst, dabei etwas falsch zu machen und den Alliierten am Ende als Krüppel in die Hände zu fallen, biss er kurz vor dem Todesschuss noch auf eine Zyankalikapsel. Vielleicht sollte ich es genauso anstellen? Ira zögerte. Aber es war nicht das Zögern einer Selbstmörderin, die eigentlich bloß einen Hilferuf an ihre Umwelt richtet. Ganz im Gegenteil. Ira wollte auf Nummer sicher gehen. Und ein ausreichender Vorrat an Giftkapseln lag ja griffbereit in dem Gefrierfach ihres Kühlschranks. Digoxin, hochkonzentriert. Sie hatte den Beutel bei dem wichtigsten Einsatz ihres Lebens neben der Badewanne gefunden und niemals in der Asservatenkammer abgegeben. Aus gutem Grund. Andererseits, Ira schob den Lauf im Mund fast bis an die Würgegrenze vor und hielt ihn völlig zentriert. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mir nur den Kiefer zerstöre und die Kugel an den lebenswichtigen Adern vorbei durch irrelevante Teile des Gehirns jage? Klein. Sehr klein. Aber nicht völlig ausgeschlossen! Erst vor zehn Tagen hatte man an einer Ampel im Tiergarten einem Mitglied der Hells Angels in den Kopf geschossen. Der Mann sollte schon im nächsten Monat aus dem Krankenhaus entlassen werden. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass sich so etwas wiederholte, war... Peng!
Ira erschrak so heftig durch den plötzlich einsetzenden Krach, dass sie sich mit der Waffe den Gaumen blutig schabte. Verdammt. Sie zog den Lauf wieder aus ihrem Mund.
Es war kurz vor halb acht, und sie hatte den idiotischen Radiowecker vergessen, der jeden Tag um diese Uhrzeit lautstark losschlug. Im Augenblick heulte sich eine junge Frau die Augen aus dem Kopf, weil sie bei einem dieser bescheuerten Radiospiele verloren hatte. Ira legte ihre Waffe auf den Küchentisch und schlurfte träge in ihr abgedunkeltes Schlafzimmer, aus dem das Gejammer bis in die Küche drang:
»... wir haben Sie per Zufall aus dem Telefonbuch ausgewählt, und Ihnen würden jetzt fünfzigtausend Euro gehören, wenn Sie sich mit der Kohle-Parole gemeldet hätten, Marina.«
»Hab ich doch - >Ich höre 101Punkt5 und jetzt her mit dem Zaster<.«
»Zu spät. Sie haben leider zuerst Ihren Namen gesagt. Die Kohle-Parole muss aber sofort nach dem Abheben kommen, und deshalb .«
Ira zog entnervt den Stecker aus der Wand. Wenn sie sich schon umbringen wollte, dann sicherlich nicht unter dem hysterischen Gekreische einer verzweifelten Bürokauffrau, die gerade einen Hauptgewinn verspielt hatte. Ira setzte sich auf das ungemachte Bett und starrte in ihren geöffneten Kleiderschrank, in dem es aussah wie in einer halb gefüllten Waschmaschine. Irgendwann hatte sie beschlossen, die durchgebrochene Kleiderstange nicht mehr auszutauschen. So ein Mist!
Sie war noch nie eine gute Organisatorin gewesen. Nicht, wenn es um ihr eigenes Leben ging. Und erst recht nicht bei ihrem eigenen Tod. Als sie heute Morgen aufgewacht war, auf dem gekachelten Fußboden, direkt neben der Kloschüssel, da wusste sie, dass es jetzt so weit war. Dass sie nicht mehr konnte. Nicht mehr wollte. Dabei ging es ihr weniger um das Aufwachen als um den ewig gleichen Traum, der sie seit einem Jahr heimsuchte. Den, in dem sie immer wieder die gleiche Treppe hinaufging. Auf jeder Stufe lag ein Zettel. Nur nicht auf der letzten. Wieso nicht?
Ira stellte fest, dass sie beim Nachdenken die Luft angehalten hatte, und atmete schwer aus. Nachdem das kreischende Radio verstummt war, kamen ihr die Nebengeräusche in der Wohnung jetzt doppelt so laut vor. Das gluckernde Brummen ihres Kühlschranks drang von der Küche bis ins Schlafzimmer. Für einen Moment hörte es sich an, als ob sich das altersschwache Gerät an seiner eigenen Kühlflüssigkeit
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